Der Sieger bleibt allein (German Edition)
A, B und C sind unterschiedlich nervös – die Unerfahrensten sind am aufgeregtesten. Einige beten, andere versuchen, durch einen Spalt im Vorhang irgendwelche Bekannte zu erspähen oder ob ihre Eltern auch ja gute Plätze ergattern konnten. Wahrscheinlich sind es zehn oder zwölf, ein Foto von jeder ist an dem Platz angebracht, an dem die Kleidungsstücke in der Reihenfolge aufgehängt sind, in der sie die Models in Sekundenschnelle wechseln, um dann wieder so lässig auf den Laufsteg hinauszugehen, als hätten sie dieses Kleidungsstück schon den ganzen Nachmittag getragen. An Make-up und Frisur wird letzte Hand angelegt.
Wie ein Mantra sagen sich die Models immer wieder vor:
›Ich darf nicht ausrutschen. Ich darf nicht über den Saum stolpern. Ich wurde unter sechzig Models eigens von der Designerin ausgewählt. Ich bin in Cannes. Jemand Wichtiges wird im Publikum sitzen, zum Beispiel hh , der mich für seine Marke auswählen könnte. Es heißt, der Saal sei voller Fotografen und Journalisten.
Ich darf nicht lächeln! So lautet die Regel. Die Füße müssen einer unsichtbaren Linie folgen. Wegen der hohen Absätze muss ich marschieren. Egal, ob das künstlich wirkt oder ich mir dabei eigenartig vorkomme – ich darf das nicht vergessen!
Ich muss bis zur Markierung gehen, mich zu einer Seite drehen, ein paar Sekunden stillstehen, dann genauso schnell wieder zurückgehen, und sobald ich nicht mehr sichtbar bin, wartet da jemand auf mich, um mich auszuziehen und mir das nächste Modell anzuziehen, ohne dass ich vorher noch einmal in den Spiegel schauen kann! Ich muss darauf vertrauen, dass alles richtig läuft. Ich muss nicht nur meinen Körper, nicht nur mein Kleid vorführen, sondern mein Charisma.‹
Hamid schaut zur Decke: Dort ist die Markierung angebracht: ein besonders großer Scheinwerfer. Geht ein Model über diesen Punkt hinaus oder bleibt es zu früh stehen, kann es nicht gut fotografiert werden. Die Redakteure der Zeitschriften – in diesem Fall der belgischen – werden dann das Foto eines anderen Models abdrucken. Die französische Presse lauert jetzt gerade vor den Hotels herum, beim roten Teppich, auf den spätnachmittäglichen Cocktailpartys, isst einen Happen und bereitet sich auf das Galadinner des heutigen Abends vor.
Die Lichter im Saal gehen aus. Die Scheinwerfer über dem Laufsteg gehen an.
Der große Augenblick ist da.
Ein gewaltiges Soundsystem füllt den Raum mit westlicher Musik aus den 1960er und 1970er Jahren. Das versetzt Hamid in eine Welt, die er selbst nicht erlebt, über die er aber viel gehört und die er gern kennengelernt hätte, und etwas in ihm begehrt auf – warum durfte er damals nicht wie die anderen jungen Leute seiner Generation die Welt bereisen?
Das erste Model tritt auf, das Bild verbindet sich mit dem Sound – das farbige, lebendige, energiegeladene Kleidungsstück erzählt dabei eine Geschichte, die Jahre zurückliegt, die die Leute aber gern noch einmal hören wollen. Neben Hamid geht ein Blitzlichtgewitter los. Kameras nehmen alles auf. Das erste Model hat einen perfekten Auftritt, sie geht bis zum Lichtpunkt, dreht sich nach rechts, hält zwei Sekunden inne, kehrt zurück. Sie braucht etwa fünfzehn Sekunden, bis sie wieder hinter den Kulissen verschwindet – dort gibt sie ihre Pose auf, rennt zum Bügel, auf dem das nächste Kleidungsstück hängt, zieht das eben vorgeführte Kleid aus und das neue blitzschnell an, stellt sich an ihren Platz in der Reihe und ist zum nächsten Auftritt bereit. Die Designerin schaut alles über ein internes Fernsehnetz an, nagt an ihrer Unterlippe und hofft, dass keins ihrer Models ausrutscht, dass das Publikum ihre Botschaft begreift, dass sie am Ende Applaus erhält, dass der Vertreter der Fédération beeindruckt ist.
Die Show geht weiter. Aus Hamids Blickwinkel und dem Aufnahmewinkel der Kameras sieht man die elegante Haltung, die Beine, die festen Schritte der Models, die direkt auf ihn zuzukommen scheinen. Für diejenigen, die seitlich sitzen und Modenschauen nicht gewöhnt sind, wie es bei den meisten dort anwesenden vip s der Fall sein wird, sieht das Ganze eigenartig aus: Warum marschieren die Models, anstatt zu gehen wie die Mannequins, die sie immer in den Modeprogrammen im Fernsehen sehen? Will die Designerin etwa originell sein?
Nein, gibt Hamid sich selber stumm die Antwort. Der Grund sind die Highheels. Nur wenn die Models marschieren, treten sie mit jedem Schritt fest auf. Die Kameras, die sie von
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