Der Sieger bleibt allein (German Edition)
es nicht ganz nach oben zu schaffen. Jetzt schreckt sie die Vorstellung, dass sich alles von einem Augenblick zum nächsten ändern könnte. Was kann sie tun, damit das Wunder von heute nicht morgen schon wieder vorbei ist? Was garantiert ihr, dass alle Versprechen, die sie in den letzten Stunden gehört hat, auch tatsächlich eingehalten werden? Sie hatte schon so oft vor phantastischen Gelegenheiten gestanden, hatte tage- und wochenlang von der Möglichkeit geträumt, ihr Leben für immer zu verändern, um dann am Ende nur zu erleben, dass das Telefon nicht klingelte, ihr Lebenslauf in irgendeiner Ecke vergessen worden war, dass der Regisseur sie im allerletzten Moment unter vielen Entschuldigungen anrief, weil er für die ihr versprochene Rolle nun doch eine besser geeignete Schauspielerin gefunden hatte – wodurch sie sich keinesfalls entmutigen lassen dürfe, weil es nichts mit ihrem Talent zu tun habe. Das Leben hat viele Möglichkeiten, einen Menschen auf die Probe zu stellen. Entweder sorgt es dafür, dass nichts passiert, oder dafür, dass alles auf einmal passiert.
Der Mann, der allein hereingekommen ist, starrt sie und das zweite Champagnerglas an. Gabriela wünscht, er käme zu ihr herüber. Seit heute Morgen hat sie mit niemandem über das, was sie erlebt hat, reden können. Sie würde jetzt gern ihre Eltern anrufen – aber ihr Handy ist in ihrer eigenen Handtasche im »Geschenksalon« geblieben, wahrscheinlich sind inzwischen Dutzende sms von ihren Mitbewohnerinnen drauf, die wissen wollen, wo sie steckt, ob sie überzählige Einladungskarten hat oder sie zu irgendeiner zweitklassigen Veranstaltung begleiten möchte, bei der die Celebrity Soundso erscheinen soll.
Sie hat niemanden, dem sie sich mitteilen kann. Sie hat einen großen Schritt vorwärts gemacht, steht jetzt allein und voller Angst, der Traum könnte enden, an einer Hotelbar. Ihr ist bewusst, dass sie nie mehr die Alte sein wird. Sie ist fast am Gipfel des Berges angelangt: Entweder strengt sie sich noch einmal tüchtig an, oder der Wind wird sie umblasen.
Der etwa 40-jährige angegraute Mann ist immer noch da. Er trinkt einen Orangensaft. Irgendwann kreuzen sich ihre Blicke, und er lächelt. Sie tut so, als hätte sie es nicht gesehen.
Warum hat sie nur solche Angst? Was wird als Nächstes auf sie zukommen? Wie soll sie sich dann verhalten? Ständig sagt man ihr, was sie tun soll, aber nie, wie. Sie fühlt sich wie ein kleines Mädchen, das in ein dunkles Zimmer gesperrt wurde und nun von allein den Weg zur Tür finden muss, während jemand mit mächtiger Stimme nach ihm ruft und erwartet, dass es aufs Wort gehorcht.
Der Androgyne, der gerade hereingekommen ist, holt sie in die Gegenwart zurück.
»Wir warten noch ein bisschen. Die ersten Gäste gehen gerade hinein.«
Der gutaussehende Mann steht auf, zahlt und geht zum Ausgang. Er wirkt enttäuscht: Vielleicht hat er auf den richtigen Augenblick gewartet, herüberzukommen, sich ihr vorzustellen und...
»...mit mir zu reden.«
»Was?«, fragt der Androgyne.
Die Worte sind ihr herausgerutscht. Zwei Gläser Champagner, und ihre Zunge hat sich schon viel zu sehr gelockert.
»Nichts.«
»Doch, du hast irgendetwas von ›mit mir reden‹ gesagt.«
Das dunkle Zimmer und das Mädchen, das niemanden hat, der ihm den Weg zeigt. Demut. Stehe zu deinem Wunsch!
»Das stimmt. Ob du es glaubst oder nicht, aber als du weggegangen bist, um mit den Fotografen zu reden, habe ich mich verlassen und verängstigt gefühlt. Ich brauche deine Hilfe. Und sag mal, wie bist du eigentlich in diese Glitzerwelt geraten? Alles ist so anders, als ich es mir vorgestellt habe. Außerdem würde ich auch gern wissen, ob du bei deiner Arbeit glücklich bist.«
Irgendein Engel – einer, der ganz bestimmt Champagner mag – gibt ihr die richtigen Worte ein.
Der Androgyne schaut sie überrascht an. Versucht sie tatsächlich, sich mit ihm anzufreunden? Warum stellt sie Fragen, die sonst niemand zu stellen wagt? Sie kennt ihn doch erst ein paar Stunden.
Er ist kein Mann für Vertraulichkeiten, er ist nicht wie andere – er ist einzigartig. Allem Anschein zum Trotz ist er nicht homosexuell, ihn interessieren die Menschen nur einfach nicht mehr. Er hat sein Haar gebleicht, kleidet sich so, wie er es sich immer gewünscht hat, er wiegt genauso viel, wie er immer schon wiegen wollte. Er weiß durchaus, dass er auf andere eigenartig wirkt, aber er muss zu niemandem nett sein, solange er seinen Job gut macht.
Und
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