Der Sieger bleibt allein (German Edition)
alle ganz oben angekommen sind, gibt es keine Herausforderungen mehr. Sie können nur die eigene Jacht mit der des anderen, den eigenen Schmuck mit dem der Nachbarin vergleichen und vom kleinen Tisch weit hinten die Gäste an den Fenstertischen beneiden, denn ein Fenstertisch bedeutet natürlich mehr Prestige. Ja, das steht am Ende: Langeweile und Vergleiche. Nachdem sie Jahrzehnte damit verbracht haben, dorthin zu kommen, wo sie heute sind, scheint nichts anderes mehr übriggeblieben zu sein, nicht einmal die Freude daran, einen Sonnenuntergang an einem Ort wie diesem genießen zu dürfen.
Und woran denken die reichen, schweigenden Frauen, die in gewissem Abstand von ihren Männern stehen?
An das Alter.
Sie müssen wieder zu einem bestimmten Schönheitschirurgen, der wiederherstellen soll, was die Zeit zerstört hat. Gabriela weiß, dass dies eines Tages auch ihr blühen wird, und unversehens steigen wieder negative Gedanken in ihr hoch.
Angst schleicht sich in ihre Freude. Sie hat das Gefühl, dass sie trotz allem, was sie dafür getan hat, das alles jetzt nicht verdient. Sie hat sich nur sehr für diese Art Leben angestrengt, aber die richtigen Fähigkeiten bringt sie nicht mit. Sie kennt die Regeln nicht, sie wagt zu viel. Dies hier ist nicht ihre Welt, und sie wird niemals dazugehören. Sie fühlt sich hilflos, weiß nicht genau, was sie hier in Europa eigentlich macht – was ist denn Verkehrtes daran, in den usa Schauspielerin zu sein, nur das zu tun, was ihr Spaß macht, und nicht, was die anderen von ihr fordern? Sie möchte glücklich sein und ist nicht sicher, ob sie auf dem richtigen Weg ist.
›Hör auf! Schluss mit diesen Gedanken!‹, ermahnt sie sich.
Yoga kann sie hier nicht machen, aber sie versucht, sich auf das Meer und den rotgoldenen Himmel zu konzentrieren. Sie steht vor einer einmaligen Chance. Sie sollte ihre Abneigung überwinden und die Zeit, die ihr bis zum ›Korridor‹ noch bleibt, dazu nutzen, mit dem Androgynen zu reden. Sie darf jetzt keine Fehler machen. Sie hat Glück gehabt, jetzt heißt es, aus der Situation das Beste zu machen. Sie öffnet ihre Tasche, um den Lippenstift herauszuholen und die Lippen nachzuziehen, sieht aber darin nur zerknülltes Seidenpapier. (Sie ist ein zweites Mal, diesmal mit der gelangweilten Make-up-Stylistin, im »Geschenksalon« gewesen und hatte wieder vergessen, ihre Kleider und ihre Dokumente mitzunehmen. Doch selbst wenn sie daran gedacht hätte, wo hätte sie das alles lassen sollen?)
Die Tasche ist ein Sinnbild für das, was sie gerade erlebt– nichts als schöner Schein.
›Beherrsch dich!‹
›Die Sonne verschwindet am Horizont und wird morgen genauso kraftvoll wiedergeboren. Auch ich muss jetzt neu erstehen. Dass ich mir diesen Augenblick im Traum so oft ausgemalt habe, muss als Vorbereitung reichen, mir Selbstvertrauen geben. Ich glaube an Wunder und fühle, dass Gott mich gesegnet hat, dass er meine Gebete erhört hat. Ich sollte mich an das erinnern, was mein Lehrer in der Schauspielschule vor jeder Probe immer gesagt hat: ›Auch wenn du etwas schon tausendmal wiederholt hast, solltest du im immer Gleichen jedes Mal etwas Neues, Phantastisches, Unglaubliches entdecken, etwas, was dir zuvor entgangen ist.‹
Ein etwa 40-jähriger, gutaussehender, leicht ergrauter Mann kommt in einem makellosen, garantiert maßgeschneiderten Smoking herein und geht auf sie zu. Er sieht das zweite Champagnerglas, dreht ab und geht ans andere Ende der Bar. Sie hätte gern mit ihm geredet; der Androgyne braucht eine Ewigkeit. Doch sie erinnert sich an seine rüden Worte:
›Kein Gespräch mit Fremden!‹
Tatsächlich schickt es sich nicht für eine junge Frau, die allein an einer Bar steht, einen älteren Gast anzusprechen – das könnte falsch interpretiert werden.
Sie trinkt den Champagner und bittet um ein weiteres Glas. Wenn der Androgyne sich in Luft aufgelöst hätte, könnte sie nicht einmal die Rechnung bezahlen, aber was macht das schon. Der Champagner lässt ihre Zweifel und ihre Unsicherheit verschwinden, doch bereits meldet sich ein nächster schrecklicher Gedanke: Was ist, wenn der Androgyne nicht wiederkommt? Kann sie dann überhaupt zur Gala hinein und ihren Verpflichtungen nachkommen?
Nein, sie ist nicht mehr nur das Mädchen aus der Provinz, das darum gekämpft hat, im Leben aufzusteigen – sie hat sich verändert. Der Weg liegt offen vor ihr. Noch ein Glas Champagner. Die Angst vor dem Unbekannten schlägt um in die Sorge,
Weitere Kostenlose Bücher