Der Sieger bleibt allein (German Edition)
gelangweilten Stylistin), versteht die Bemerkung nicht.
»Ist es bei all diesen Staus nicht besser, etwas früher unterwegs zu sein? Was kann daran schlecht sein?«
Der Androgyne stößt einen tiefen Seufzer aus, weil er jemanden vor sich hat, der von den einfachsten Regeln der Glanz-und-Glamour-Welt keine Ahnung hat und dem er nun etwas vollkommen Selbstverständliches erklären muss:
»Es könnte von Vorteil sein, weil du dann allein im Korridor bist...«
Er sieht sie an, merkt, dass sie nicht versteht, was er damit meint, seufzt wieder und setzt noch einmal an:
»Der Auftritt bei einer solchen Gala besteht nicht darin, dass man einfach in den Festsaal hineingeht. Man muss immer erst durch einen Korridor, auf dessen einer Seite die Fotografen stehen, und auf der anderen Seite das Logo des Sponsors mehrfach an die Wand projiziert ist. Hast du dir nie Celebrity-Blätter angesehen? Ist dir nie aufgefallen, dass hinter den Berühmtheiten, während sie in die Kamera lächeln, immer die Marke irgendeines Produkts zu sehen ist?«
»Celebrity« – heißt das etwa, der arrogante Androgyne zählt sie auch zu den Berühmtheiten? Schon möglich, aber Gabriela weiß genau, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist.
»Und was könnte verkehrt daran sein, früh zu erscheinen?«
Noch ein Seufzer.
»Möglicherweise sind die Fotografen noch nicht da. Drücken wir die Daumen, dass alles klappt, dann kann ich gleich diese Flyer mit deiner Biografie unter die Leute bringen.«
»Mit meiner Biografie?«
»Glaubst du denn, die wissen alle, wer du bist? Nein, meine Liebe. Ich muss jedem dieses blöde Papier in die Hand drücken und sagen, dass gleich der große weibliche Star des nächsten Films von Gibson hereinkommt und er seine Kamera bereithalten soll. Sobald du im Korridor erscheinst, gebe ich den Fotografen ein Zeichen.
Sie sind es übrigens gewohnt, immer als diejenigen behandelt zu werden, die in Cannes in der Hierarchie ganz unten stehen. Also werde ich nicht besonders freundlich zu ihnen sein, sondern ihnen unmissverständlich klarmachen, dass ich ihnen einen großen Gefallen tue. Sie werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, schließlich steht ihr Job auf dem Spiel, denn Leute, die einen Fotoapparat und einen Internetanschluss haben und verrückt darauf sind, etwas ins Netz zu stellen, was alle anderen übersehen haben, gibt es zuhauf. Ich denke, in ein paar Jahren werden die Zeitungen nur noch die Dienstleistungen von solchen Namenlosen in Anspruch nehmen und damit ihre Kosten senken – denn Zeitschriften und Zeitungen haben immer geringere Auflagen.«
Der Androgyne möchte zeigen, dass er sich auch mit Medien auskennt, doch Gabriela zeigt kein Interesse. Sie nimmt einen Flyer und beginnt zu lesen.
»Wer ist Lisa Winner?«
»Du. Dein Name wurde geändert. Oder, besser gesagt, dieser Name stand schon fest, bevor du ausgewählt wurdest. Von nun an heißt du so. Gabriela ist zu italienisch, eine Lisa kann aus jedem Land kommen. Trendforscher haben herausgefunden, dass die Leute Namen mit vier bis sechs Buchstaben im Allgemeinen leichter behalten: Fanta, Taylor, Burton, Davos, Woods, Hilton – reicht dir die Erklärung, oder soll ich weitermachen?«
»Ich habe schon verstanden, dass du was von Marketing verstehst. Aber jetzt muss ich erst mal herausfinden, wer ich bin – meiner neuen Biografie zufolge.«
Sie hatte das ironisch gemeint, selbstbewusst, fast schon wie ein richtiger Star. Und dann liest sie: Die große Entdeckung, unter mehr als tausend Bewerberinnen dafür ausgewählt, bei der ersten Filmproduktion des berühmten Couturiers Hamid Hussein mitzuspielen, usw.
»Die Flyer wurden schon vor einem Monat gedruckt«, sagt der Androgyne und versetzt ihr damit einen Stich. »Das wurde von der Marketingmannschaft der Gruppe geschrieben. Sie machen immer das Richtige. Schau dir nur bestimmte Details an wie: ›Sie hat als Model gearbeitet, Schauspiel studiert.‹ Das trifft doch genau auf dich zu, oder etwa nicht?«
»Heißt das, ich wurde weniger aufgrund der Qualität meines Castings als wegen meiner Biografie ausgewählt?«
»Alle, die da waren, haben die gleiche Biografie.«
»Warum hören wir nicht einfach auf, uns gegenseitig zu provozieren, und versuchen, menschlicher miteinander umzugehen, Freunde zu sein?«
»In diesem Milieu? Vergiss es! Hier gibt es keine Freunde, nur Interessen. Hier gibt es keine Menschen, nur aus dem Ruder gelaufene Maschinen, die alles, was sich ihnen in den Weg
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