Der Sieger bleibt allein (German Edition)
rigoros, das lernt man in jeder Künstleragentur immer als Erstes. Außerdem hatte sie schon an ihrem ersten Tag in Cannes die vielen Verkehrsstaus gesehen, sie musste sich also mit dem Anziehen beeilen. In anderthalb Stunden wollte sie vor Ort sein. Sie wusste, wo sich das Hotel befand, in dem die Produzentin logierte, denn sie war am Vortag bereits einmal daran vorbeigefahren.
Jetzt musste sie erst einmal das übliche Problem lösen:
›Was ziehe ich an?‹
Sie stürzt zu ihrem Koffer und sucht eine in China produzierte Armani-Jeans aus, die sie von einem Straßenhändler in einem Vorort von Chicago für ein Fünftel des Ladenpreises gekauft hatte. Niemand würde merken, dass es eine Fälschung war, denn letztlich war es ja keine: die chinesischen Firmen schickten achtzig Prozent ihrer Produktion an ihre Auftraggeber, die restlichen zwanzig Prozent wurden von den Fabrikarbeitern unter der Hand verkauft – sozusagen als Lagerüberschuss.
Dazu zieht Gabriela ein weißes dkny -T-Shirt an, das teurer war als die Hose – sie weiß, je zurückhaltender, desto besser. Keine kurzen Röcke und gewagten Dekolletés, denn so würden all die anderen angezogen sein, die zum Casting eingeladen waren.
Beim Make-up zögert sie. Ein wenig getönte Tagescreme und diskret die Lippen nachgezogen. Eine kostbare Viertelstunde hat sie bereits verloren.
11 Uhr 45
Die Menschen sind nie zufrieden. Haben sie wenig, wollen sie viel. Haben sie viel, wollen sie noch mehr. Haben sie das schließlich auch bekommen, wollen sie mit wenig glücklich sein, aber aufgeben wollen sie dafür auch nichts.
Begreifen sie denn nicht, wie einfach Glücklichsein ist? Was kann für dieses Mädchen, das gerade in Jeans und weißem T-Shirt vorbeirennt, so wichtig sein, dass sie den schönen, sonnigen Tag, das blaue Meer, die Kinder in ihren Wägelchen, die Palmen am Strand nicht wahrnimmt?
›So schnell du auch läufst, Mädchen – zwei Dingen wirst du in deinem Leben nicht entkommen können: Gott und dem Tod. Gott begleitet deine Schritte und ist verärgert, dass du dir nicht die Zeit nimmst, auf das Wunder des Lebens zu achten. Und was den Tod betrifft: Du bist gerade an einer Leiche vorbeigekommen und hast es nicht einmal bemerkt.‹
Igor ist inzwischen mehrmals an den Ort zurückgekehrt, an dem er das Mädchen umgebracht hat. Irgendwann ist ihm allerdings aufgegangen, dass sein Kommen und Gehen ihn verdächtig machen könnte. Daher hat er sich zweihundert Meter vom Tatort entfernt an die Balustrade vor der Uferpromenade gelehnt und seine Sonnenbrille aufgesetzt (die nicht nur, weil die Sonne scheint, nichts Verdächtiges hat, sondern, weil an einem Ort, an dem sich berühmte Leute aufhalten, die Sonnenbrille ein Statussymbol ist).
Ihn wundert, dass noch niemand die Tote auf dem wichtigsten Boulevard des Ortes bemerkt hat, auf den gerade die ganze Welt schaut.
Ein Mann und eine Frau nähern sich der Bank. Sie sind offensichtlich verärgert und reden laut auf die scheinbar Schlafende ein. Offenbar die Eltern des Mädchens, die es beschimpfen, weil es nicht arbeitet. Der Vater schüttelt seine Tochter. Dann beugt sich die Mutter vor und versperrt Igor die Sicht.
Er weiß genau, was jetzt gleich geschehen wird.
Die Mutter schreit auf. Der Vater zieht sein Mobiltelefon hervor und tritt aufgeregt zur Seite. Die Mutter schüttelt den leblosen Körper der Tochter. Passanten treten hinzu. Jetzt kann Igor die Sonnenbrille abnehmen und sich einfach als ein weiterer Neugieriger unter die Menge mischen.
Die Mutter hält das Mädchen im Arm und weint. Ein junger Mann schiebt sie weg und versucht Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen, gibt aber schnell auf – Olivias Gesicht hat bereits eine leicht purpurne Färbung angenommen.
»Ein Krankenwagen! Ein Krankenwagen!«
Mehrere Menschen rufen dieselbe Nummer an, alle fühlen sich nützlich, wichtig, engagiert. Die Sirene ist in der Ferne bereits zu hören. Die Mutter schreit immer lauter, eine junge Frau legt den Arm um sie und redet beruhigend auf sie ein, aber die Mutter schiebt sie weg. Jemand versucht die Leiche aufrecht auf die Bank zu setzen. Jemand anders rät dringend, sie auf der Bank liegen zu lassen.
»Es ist ganz bestimmt eine Überdosis Drogen«, meint jemand neben Igor. »Diese Jugend ist wirklich verloren.«
Alle Umstehenden nicken bestätigend. Igor beobachtet ungerührt die Ankunft des Krankenwagens. Er sieht, wie die Apparate aus dem Wagen geholt werden, Olivias Herz mit
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