Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Elektroschocks behandelt wird. Der begleitende Arzt schaut wortlos zu, denn er weiß, dass nichts mehr zu machen ist, möchte aber nicht, dass der Krankenwagenbesatzung später unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen wird. Sie holen die Trage, legen die Tote darauf und schieben sie in den Wagen. Die Mutter klammert sich an die Tochter, es gibt einen kurzen Wortwechsel, dann erlauben sie der Mutter mitzufahren, und der Wagen braust davon.
Von dem Augenblick an, in dem das Paar die Leiche entdeckt hat, bis zur Abfahrt des Krankenwagens sind keine fünf Minuten vergangen. Der Vater bleibt verwirrt zurück, weiß nicht, wohin er gehen und was er tun soll. Die Person, die vorhin die Bemerkung über Drogen gemacht hat, wendet sich an ihn und wiederholt ihre Vermutung:
»Regen Sie sich nicht auf, Monsieur«, sagt er. »Das passiert hier jeden Tag.«
Der Vater reagiert nicht. Er hält noch immer sein aufgeklapptes Handy in der Hand und starrt ins Leere. Er hört die Bemerkung nicht, denn er befindet sich in einem Schockzustand, in dem man nichts spürt, nicht einmal Schmerz.
So schnell sie sich aus dem Nichts gebildet hat, so schnell löst sich die Menschenmenge wieder auf. Zurück bleiben nur der Vater mit dem aufgeklappten Handy und Igor, der nun seine Sonnenbrille abnimmt.
»Kannten Sie das Opfer?«, fragt Igor.
Auch er bekommt keine Antwort. Er sollte es besser wie die anderen halten – weiter auf der Croisette flanieren und den sonnigen Tag in Cannes genießen. Wie der Vater weiß auch er nicht genau, was er fühlt: Er hat eine Welt zerstört, die er, selbst wenn er alle Macht der Welt hätte, nicht wiederaufbauen könnte. Hat Ewa das verdient? Olivia – er kennt ihren Namen, und das stört ihn sehr, denn sie ist nun nicht mehr nur ein Gesicht in der Menge – hätte Kinder bekommen können, ein Kind mit besonderen Gaben vielleicht, das ein Mittel gegen Krebs hätte entdecken oder als Politiker mithelfen können, der Welt endlich Frieden zu bringen. Er hat nicht nur einem Menschen ein Ende bereitet, sondern auch dessen möglichen Nachkommen.
Was hatte er getan? Konnte die Liebe, so groß und stark sie auch sein mochte, das rechtfertigen?
Igor hatte sich beim ersten Opfer vertan. Dessen Tod würde keine Nachricht in den Medien wert sein. Und die Botschaft würde Ewa nicht erreichen.
Denk nicht weiter darüber nach, es ist nunmal passiert. Du bist bereit, noch weiterzugehen, mach weiter! Das Mädchen wird begreifen, dass sein Tod nicht nutzlos, sondern eine Opfergabe im Namen einer größeren Liebe war. Geh einfach weiter, verhalte dich ganz normal, du hast in diesem Leben schon genug gelitten und verdienst nun etwas Trost und Ruhe!
Genieße das Festival. Du bist bereit.
Selbst wenn er eine Badehose dabeigehabt hätte – es wäre schwierig gewesen, ans Meer zu gelangen. Große Teile des Strandes gehörten den Hotels, und die hatten dort ihre Stühle, ihre Schilder, ihre Kellner, Sicherheitskräfte verteilt, die an jedem Zugang zum reservierten Strandbereich eine Zimmernummer oder irgendeine andere Identifikation verlangten. An anderen Stellen des Strandes standen große weiße Zelte, in denen irgendeine Filmproduktionsfirma, Bier- oder Kosmetikmarke bei einem sogenannten »Lunch« einen neuen Film oder ein neues Produkt lancierten. Dort waren die Leute normal gekleidet, wenn man unter »normal« bei Männern Basecap, buntes Hemd und helle Hose und bei Frauen Schmuck, Tunika, Shorts und flache Schuhe verstand.
Sonnenbrillen für beide Geschlechter. Und wenig nacktes Fleisch, denn die Superklasse ist schon über dieses Alter hinaus, wo sie sich unverhüllt zeigen kann, ohne sich lächerlich zu machen.
Igor fällt ein weiteres Detail auf: das Handy. Das wichtigste Accessoire.
Es war wichtig, alle paar Minuten eine sms zu erhalten, ein Gespräch zu unterbrechen, um einen vollkommen unwichtigen Anruf anzunehmen, ellenlange sms einzutippen. Alle hatten vergessen, dass diese Buchstaben für Short Message Service standen, und benutzten die kleine Tastatur wie eine Schreibmaschine. Das ging langsam, war unbequem und konnte zu ernsthaften Schäden an den Daumengelenken führen, aber was machte das schon? Nicht nur in Cannes, auf der ganzen Welt erfüllten in genau diesem Augenblick Nachrichten den Äther wie: »Guten Tag, Liebling, als ich aufgewacht bin, habe ich an dich gedacht, und ich bin froh, dass es dich in meinem Leben gibt«, oder: »Ich bin in zehn Minuten da, hab bitte mein Mittagessen fertig, und
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