Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Menschen sich opferten, um ihren Stamm zu ernähren, als Jungfrauen den Priestern übergeben wurden, um mit ihrem Opfertod Drachen und Götter milde zu stimmen. Drittens hatte er die Aufmerksamkeit eines Fremden auf sich gezogen, indem er Interesse an dem Mann gezeigt hatte, der am Nebentisch saß.
Der Kellner würde den Zwischenfall vergessen, aber Igor durfte keine unnötigen Risiken mehr eingehen. Doch andererseits war es bei einem Festival wie diesem bestimmt ganz normal, dass Leute wissen wollten, wer die anderen waren, und noch normaler, dass so eine Information bezahlt wurde. Das hatte er schon hundertmal in Restaurants überall auf der Welt gemacht – dem Kellner ein Trinkgeld gegeben, um einen besseren Tisch zu bekommen, um eine diskrete Botschaft zu schicken. Und sicherlich hatten andere umgekehrt auf die gleiche Art zu erfahren versucht, wer er war. Kellner sind das nicht nur gewohnt, sie erwarten es geradezu.
Nein, nein, der Kellner würde sich an nichts erinnern. Igor hat sein nächstes Opfer im Blick. Wenn es ihm gelänge, seinen Plan bis zum Ende durchzuführen, und wenn der Kellner später befragt würde, könnte dieser nur sagen, das einzig Merkwürdige an jenem Tag sei die Frage von jemandem gewesen, ob es akzeptabel sei, im Namen einer großen Liebe Welten zu zerstören. Vielleicht würde er sich nicht einmal mehr an den Satz erinnern. Die Polizisten würden fragen: ›Wie sah er aus?‹ Und der Kellner würde antworten: ›Darauf habe ich nicht geachtet. Aber schwul war er nicht.‹
Die französische Polizei hatte Erfahrung mit Intellektuellen, die in Bars herumhockten und hochkomplizierte Theorien zur Soziologie eines Filmfestivals entwickeln. Sie würden sich über eine solche Äußerung nicht weiter wundern und die Sache auf sich beruhen lassen.
Doch etwas stört ihn.
Der Name. Die Namen.
Igor hatte schon vorher getötet, mit Waffen und mit dem Segen seines Landes. Wie viele Menschen, das wusste er nicht; er hatte ihre Gesichter selten gesehen und ganz bestimmt nie nach ihren Namen gefragt. Denn das hätte auch bedeutet, davon Kenntnis zu nehmen, dass man einen Menschen vor sich hat und keinen »Feind«. Der Name macht jemanden zu einem besonderen, einzigartigen Individuum mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, mit Vorfahren und möglicherweise auch Nachkommen, mit Siegen und Niederlagen. Die Menschen sind ihre Namen, sie sind stolz auf sie, wiederholen sie während ihres Lebens Tausende von Malen. Ihr eigener Name ist das erste Wort, das sie nach dem üblichen ›Mama‹ und ›Papa‹ lernen.
Olivia. Javits. Igor. Ewa.
Aber die Seele hat keinen Namen. Sie ist die reine Wahrheit, lebt für eine bestimmte Zeit in einem Körper und wird ihn eines Tages verlassen. Und Gott wird sich nicht die Mühe machen, zu fragen: ›Wer bist du?‹ Gott wird nur fragen: ›Hast du während deines Lebens genug geliebt?‹ Das ist das Wesentliche im Leben: die Fähigkeit, zu lieben, und nicht der Name, der in unserem Pass, auf unseren Visitenkarten steht. Für die großen Mystiker waren ihre Namen bedeutungslos gewesen. Als Johannes der Täufer gefragt wurde, wer er sei, sagte er nur: ›Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste. Als Jesus seinen Nachfolger findet, der für den Fortbestand seiner Lehre sorgen wird, übersieht er, dass jener sein Lebtag auf den Namen Simon gehört hat, und nennt ihn Petrus. Moses fragt Gott nach seinem Namen: Der antwortet: ›Ich bin.‹
Vielleicht sollte Igor jemand anderen aussuchen. Ein Opfer mit einem Namen reicht: Olivia. Doch in diesem Augenblick fühlt er, dass er nicht zurückkann. Er kann nicht zurück, denn er möchte dem Mädchen am Strand gerecht werden, das so schutzlos gewesen war, ein so leichtes, sanftes Opfer. Seine neue Herausforderung – pseudoathletisch, hennagefärbtes Haar, verschwitzt, mit gelangweiltem Blick und vermutlich sehr mächtig – ist sehr viel schwieriger. Die beiden Männer im Anzug sind nicht nur Assistenten. Er hat bemerkt, wie sie hin und wieder prüfend um sich blicken, alles mitbekommen, was um sie herum geschieht. Wenn Igor Ewas würdig und Olivia gerecht werden will, dann muss er Mut zeigen.
Er lässt den Trinkhalm im Ananassaft stecken. Allmählich kommen immer mehr Leute. Nun muss er warten, bis alles voll ist. Es wird nicht lange dauern. Er hatte nicht geplant, mitten auf der Promenade von Cannes eine Welt zu zerstören, ebenso wenig weiß er jetzt, wie er hier seinen Plan ausführen wird. Aber etwas sagt
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