Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Uhr 46
Er wacht schweißgebadet auf. Schaut auf den Wecker auf dem Nachttisch und stellt fest, dass er nur vierzig Minuten geschlafen hat. Er ist erschöpft, aufgewühlt, in Panik. Er hatte immer geglaubt, niemandem auch nur ein Haar krümmen zu können, und jetzt hat er an diesem Morgen schon zwei Menschen getötet. Er hat nicht zum ersten Mal eine Welt zerstört, aber bisher hat er immer gute Gründe dafür gehabt.
Er hat von dem Mädchen auf der Bank am Strand geträumt. Im Traum hat sie ihn nicht verdammt, sondern gesegnet. Er hat in ihrem Schoß geweint, um Vergebung gebettelt, aber sie ist nicht darauf eingegangen. Sie hat ihm übers Haar gestrichen und ihm gesagt, er solle sich beruhigen. Olivia, die Großmütige, Vergebende. Jetzt fragt er sich, ob seine Liebe zu Ewa wert ist, was er ihretwegen tut.
Er möchte gern glauben, dass er richtig handelt. Wenn er das junge Mädchen auf seiner Seite weiß, wenn er ihr auf einer höheren, dem Göttlichen näheren Ebene begegnet und alles viel einfacher gewesen ist, als er erwartet hat, dann muss es für alles, was geschehen ist, einen guten Grund geben.
Es war nicht kompliziert gewesen, die Wachsamkeit von Javits’ »Freunden« zu überlisten. Er kannte solche Leute: Sie waren nicht nur körperlich darauf vorbereitet, schnell und präzise zu reagieren, sondern auch darin geschult, sich jedes Gesicht zu merken, jede Bewegung zu registrieren, Gefahr vorauszusehen. Sie hatten bestimmt gemerkt, dass er bewaffnet war, und hatten ihn daher lange beobachtet, sich aber dann entspannt, als sie den Eindruck gewannen, dass er keine Bedrohung darstellte. Vielleicht hatten sie auch angenommen, dass er ein Kollege war, den man vorausgeschickt hatte, um das Zelt für seinen eigenen Chef einem Sicherheitscheck zu unterziehen.
Er hatte keinen Chef. Und er war eine Bedrohung. Als er hereingekommen war und entschieden hatte, wer das nächste Opfer sein würde, konnte er nicht mehr zurück – oder er hätte jede Selbstachtung verloren. Zehn Minuten später hatte er das Zelt bereits wieder verlassen und hoffte, Javits’ »Freunde« würden es merken. Bei seiner Ankunft war ihm aufgefallen, dass die zum Zelt führende Rampe bewacht war, man aber unbeobachtet vom Strand hineingelangen konnte. Er war also die den Gästen des Hotels Martinez vorbehaltene Rampe hinuntergegangen, hatte die als Schlüssel dienende Magnetkarte vorgezeigt und war über den Strand ins Festzelt zurückgekehrt. Mit Schuhen durch den Sand zu gehen war nicht gerade angenehm gewesen, und Igor hatte gemerkt, wie müde er von der Reise und wie groß seine Angst war, dass sich sein Plan als undurchführbar erweisen könnte. Und da war noch die Anspannung, die er gespürt hatte, nachdem er die Welt der armen Kunsthandwerksverkäuferin zerstört und damit auch mögliche zukünftige Nachfahren verhindert hatte. Aber er durfte nicht aufgeben.
Bevor er wieder in das große Festzelt zurückkehrte, hatte er den Trinkhalm, den er vorsichtig weggesteckt hatte, aus der Tasche gezogen und die kleine Glasflasche geöffnet, die er Olivia gezeigt hatte. Im Gegensatz zu dem, was er ihr gesagt hatte, enthielt sie kein Benzin, sondern etwas ganz Unscheinbares: eine Nadel und ein Stück Korken. Mit einer Metallklinge hatte er den Korken so zugeschnitten, dass er in den Trinkhalm passte.
Die Lunchgäste waren inzwischen alle eingetroffen, gingen hin und her, verteilten Küsschen, umarmten sich, riefen sich Begrüßungen zu, hielten Cocktails in allen nur möglichen Farben, damit die Hände etwas zu tun hatten und die Wartezeit bis zur Eröffnung des Buffets überbrückt wurde, an dem sie nur maßvoll zulangen würden, denn es galt Diäten einzuhalten, die Ergebnisse von Schönheitsoperationen nicht zu zerstören, und zudem gab es am Ende des Tages noch ein Dinner, bei dem sie möglicherweise gezwungen waren, wieder etwas zu essen, obwohl sie keinen Hunger hatten.
Die meisten Gäste waren ältere Leute. Was bedeutete: Dies war eine Veranstaltung für etablierte Profis. Das Alter der Teilnehmer war ein weiterer Pluspunkt für Igors Plan, weil fast alle Brillenträger waren und ihre Brillen aus Eitelkeit nicht trugen, denn Sehschwäche wurde als Alterserscheinung angesehen. Hier mussten alle sich wie Menschen im besten Alter kleiden und aufführen, »geistig jung«, »beneidenswert fit« wirken und so tun, als würde sie nichts in ihrer Umgebung interessieren und als seien sie ganz mit eigenen Dingen beschäftigt
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