Der Sieger bleibt allein (German Edition)
aufreihten, sie befragten und Ausweis, Telefonnummer und Adresse verlangten. Wer hatte das getan? Warum? Cristina brachte kein Wort heraus. Die von einem Tuch bedeckte Leiche wurde hinausgetragen. Eine Krankenschwester zwang Cristina, eine Tablette zu schlucken, und erklärte ihr, sie könne jetzt nicht mehr selber fahren, müsse ein Taxi oder ein öffentliches Verkehrsmittel nehmen, um nach Hause zu kommen.
Am nächsten Morgen klingelte in aller Frühe das Telefon. Die Mutter, die nicht zur Arbeit gegangen war, weil sie bei ihrer Tochter bleiben wollte, die völlig geistesabwesend wirkte, nahm den Hörer ab. Die Polizei wollte Cristina persönlich befragen – sie sollte sich noch am selben Vormittag in einer bestimmten Polizeiwache bei einem bestimmten Inspektor melden. Die Mutter weigerte sich. Die Polizei drohte. Am Ende hatten sie keine andere Wahl.
Sie waren pünktlich zur angegebenen Zeit erschienen. Der Inspektor wollte wissen, ob Cristina den Mörder kenne.
Sie hatte noch die Worte ihrer Mutter im Ohr: ›Sag nichts! Wir sind Immigranten, Schwarze, die Täter sind weiß, Belgier. Sobald sie aus dem Gefängnis herauskommen, werden sie hinter dir her sein.‹
»Ich weiß nicht, wer’s war. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
Als Cristina das sagte, spürte sie, wie ihr ihre ganze Lebensfreude abhandenkam.
»Selbstverständlich weißt du es!«, entgegnete der Polizist. »Hab keine Angst, dir passiert nichts! Die Gruppe wurde fast vollständig festgenommen, wir brauchen nur noch Zeugen für das Verfahren.«
»Ich weiß nicht, wie das passiert ist, ich stand nicht direkt daneben. Ich habe nicht gesehen, wer’s war.«
Der Inspektor schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Das wirst du vor Gericht wiederholen müssen«, meinte er. »Wie du sicher weißt, kommt man auch für Falschaussagen ins Gefängnis.«
Ein paar Monate später wurde Cristina zur Gerichtsverhandlung geladen. Die Jungen waren alle da. Sie hatten ihre Anwälte dabei und schienen noch immer guter Dinge zu sein. Eines der Mädchen, das auch in der Disco gewesen war, zeigte auf den Täter.
Dann war Cristina an der Reihe. Der Staatsanwalt bat sie, die Person zu identifizieren, die ihrem Freund die Kehle durchgeschnitten hatte.
»Ich weiß nicht, wer’s war«, sagte sie noch einmal.
Sie war schwarz. Tochter von Immigranten. Hatte ein Regierungsstipendium. Wochenlang hatte sie die Zimmerdecke angestarrt, hatte keine Lust zu lernen, zu gar nichts mehr Lust gehabt. Nein, die Welt, in der sie bislang gelebt hatte, gehörte ihr nicht mehr: Mit sechzehn hatte sie auf die schlimmstmögliche Weise gelernt, dass es für sie keine Sicherheit im Leben gab – wenn sie ihre Lebensfreude und ihre Kräfte wieder zurückbekommen wollte, musste sie Antwerpen unbedingt verlassen, auf Reisen gehen.
Die Jungen wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen – es wären zwei Zeugen notwendig gewesen, um sie zu verurteilen. Gleich nachdem sie das Gerichtsgebäude verlassen hatte, rief Cristina die Nummern auf den beiden Visitenkarten an, die die Fotografen ihr gegeben hatten, und vereinbarte einen Termin. Dann ging sie zu der Boutique, deren Besitzer sie angesprochen hatte.
Dort hieß es, der Besitzer sei verreist, er habe in ganz Europa Boutiquen und sei enorm beschäftigt und seine Telefonnummer geheim.
Zum Glück haben Fotografen ein gutes Gedächtnis. Sie wussten gleich, wen sie am Apparat hatten, und machten sofort einen Termin aus.
Zu Hause angekommen, teilte Cristina ihrer Mutter ihre Entscheidung mit. Sie bettelte nicht, versuchte nicht, ihre Mutter zu überzeugen. Cristina sagte schlicht und einfach, sie werde die Stadt für immer verlassen.
Und ihre einzige Chance dafür sei, als Model zu arbeiten.
Jasmine (Cristina) blickt noch einmal in die Runde. Noch sind es drei Stunden bis zur Modenschau, und die Models essen Salat, trinken Tee, unterhalten sich über ihre nächsten Engagements. Sie sind aus unterschiedlichen Ländern gekommen, etwa gleich alt wie Jasmine – 19 – und haben alle nur zwei Dinge im Kopf: an diesem Nachmittag einen neuen Vertrag zu bekommen oder einen reichen Ehemann zu finden.
Cristina kennt die täglichen Pflegerituale einer jeden von ihnen: Vor dem Schlafengehen benutzen sie verschiedene Tonics, Feuchtigkeitslotionen und Cremes, um die Poren zu reinigen und die Haut geschmeidig zu erhalten, und machen sich früh von äußerlichen Wirkstoffen abhängig. Nach dem Aufwachen massieren sie den Körper mit weiteren Cremes
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