Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Problem: Die Stoffe, die Sie dort gebrauchen, gibt es hier nicht; außerdem arbeiten Ihre Muster mit religiösen Anspielungen. Mode kleidet zwar den Körper, spiegelt aber auch Geist und Seele dessen wider, der sie gemacht hat.«
Der Chef ging zu einem Zeitschriftenstapel in einer Ecke, als wüsste er ganz genau, was da alles lag. Er zog eine alte Zeitschrift heraus, die er wahrscheinlich bei den Pariser bouquinistes – den Buchhändlern, die seit Napoleons Zeiten ihre Bücher am Seineufer feilboten – gekauft hatte. Er schlug sie auf. Es war eine alte Paris Match mit Christian Dior auf der Titelseite.
»Was macht diesen Mann zur Legende? – Er hat das Wesen des Menschen begriffen. Von allen Revolutionen in der Mode ist eine besonders bemerkenswert: Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als ganz Europa praktisch nichts anzuziehen hatte, weil Stoffe knapp waren, schuf er Modelle, für die unglaublich viel Stoff gebraucht wurde. So präsentierte er nicht nur eine schöne, gutgekleidete Frau, sondern einen Traum von Eleganz, Fülle, Überfluss, davon, dass alles wieder wie früher werden würde. Er wurde deswegen angegriffen und verleumdet, aber er wusste, dass er sich auf dem rechten Weg befand – immer in entgegengesetzter Richtung zu allen anderen.«
Der Chef legte die Paris Match genau an die Stelle zurück, von wo er sie weggenommen hatte, und zog eine andere Zeitschrift hervor.
»Und hier ist Coco Chanel. Sie wurde als Kind von ihren Eltern im Stich gelassen, schlug sich als Nachtclubsängerin durch. Sie war eine Frau, die vom Leben nur das Schlimmste erwarten konnte. Aber sie hat ihre einzige Chance genutzt – reiche Liebhaber – und wurde in kurzer Zeit zur wichtigsten Frau der Haute Couture ihrer Zeit. Was hat sie getan? Sie hat die Frauen von der Sklaverei der Korsetts befreit, diesen Folterinstrumenten, die den Oberkörper formten und keine freie, natürliche Bewegung erlaubten. Nur eines machte sie falsch: Sie verheimlichte ihre Vergangenheit, obwohl ihre Geschichte ihr geholfen hätte, zu einer noch größeren Legende zu werden – die Frau, die trotz allem überlebt hatte.«
Der Chef legte auch diese Zeitschrift an ihren Platz zurück. Er fuhr fort:
»Sie werden sich fragen: Und warum wurde das Korsett nicht schon lange vorher abgeschafft? Genau kann man das nicht sagen. Selbstverständlich wird es versucht worden sein – von Schneidern, die in Vergessenheit gerieten, weil ihre Kollektionen nicht den Zeitgeist widerspiegelten. Coco Chanels Arbeit wurde nicht nur wegen ihrer schöpferischen Begabung oder den reichen Liebhabern ein so nachhaltiger Erfolg – die Gesellschaft musste für die sich gleichzeitig vollziehende große feministische Revolution bereit sein.«
Der Chef machte eine Pause.
»Und jetzt ist der Augenblick für die Mode des Vorderen Orients gekommen. Gerade weil die Spannungen und die Angst, die die Welt in Atem halten, dort ihren Ursprung haben. Als Leiter dieses Hauses kenne ich diese Zusammenhänge. Ich weiß auch, wie wichtig Farben sind und die Zusammenarbeit mit den Lieferanten von Farben und Pigmenten. Jede Kollektion hat letztlich ihren Ursprung in einer Farbenfabrik.«
Hamid schaut wieder zum großen Modedesigner hinüber, der allein, den Fotoapparat auf dem Sessel neben sich, auf der Terrasse sitzt. Möglicherweise hat er ihn hereinkommen sehen und fragt sich jetzt, woher Hamid das viele Geld hat, das es ihm ermöglicht, sich jetzt zu seinem größten Konkurrenten zu entwickeln.
Der Mann, der ins Leere starrt und so tut, als würde ihn nichts kümmern, hat alles nur Erdenkliche getan, um zu verhindern, dass Hamid in die Fédération française de la couture aufgenommen wurde. Er war davon ausgegangen, Hamid würde seine Geschäfte mit Erdöl finanzieren, und hatte das für unlauteren Wettbewerb gehalten. Er wusste nicht, dass der Scheich Hamid acht Monate nach dem Tod seines Vaters zu einem persönlichen Gespräch zu sich gerufen hatte. Das war genau in dem Augenblick gewesen, als das Haus, für das er arbeitete, ihm eine bessere Stelle angeboten hatte, was aber nicht bedeutete, dass sein Name irgendwo genannt werden würde, da das Haus bereits einen anderen Designer unter Vertrag hatte, der unter den Scheinwerfern und auf den Laufstegen glänzen würde.
Als Hamid wegen des Gesprächs mit dem Scheich in seine Heimatstadt zurückkehrte, erkannte er sie erst nicht wieder. Am einzigen Boulevard der Stadt erhob sich eine endlose Reihe von
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