Der silberne Sinn
erstarrte sie zu Eis. Jede hastige Bewegung konnte jetzt tödlich sein. Gleichzeitig brach ihr der kalte Schweiß aus, und sie fürchtete, schon dessen Geruch könne ihr zum Verhängnis werden. Aber wie konnte sie ruhig hinnehmen, was da mit ihr geschah? Das Kriechtier wand sich um ihre Fessel, kroch ein Stück an ihrem Bein hinauf, glitt an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang. Längst hatte sich die eigentliche Natur des Ungeheuers im dunklen Tümpel ihrer Erinnerungen aufgelöst, war zu einem Feind geworden, dem sie sich hilflos ausgeliefert fühlte…
Das warme Gewicht des sich windenden Körpers schlüpfte unter ihr Hemd, schob sich über ihre Leistenbeuge hinweg, wanderte den Bauch hinauf, berührte den Nabel. Yeremi öffnete den Mund und rang nach Luft. Sie glaubte ersticken zu müssen. Ihr Herz raste, jeden Moment musste es zerbersten. Sie wollte schreien, aber das hätte ihr sicheres Ende bedeutet. Doch der stumme Eroberer nahm keine Rücksicht darauf. Zwischen ihren bebenden Brüsten hielt er inne, als wolle er sich dort ein Nest bauen, setzte dann jedoch seinen Weg nach oben fort. Entsetzt drückte Yeremi ihr Kinn auf die Brust und starrte auf ihren Halsausschnitt. Jeden Moment würde es sich zeigen…
Sie musste nicht lang warten. Wenn sie je dem Grauen ein Gesicht hätte geben müssen, dann wohl dieses, das ihr von dort unten, zwischen ihren Brüsten, entgegenblickte. Es war das hämisch grinsende Antlitz eines Mannes…
Yeremi schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
Ohne den geringsten Gedanken an giftige Zähne zu verschwenden, fuhr sie von ihrem Lager hoch. Sie verhedderte sich im Moskitonetz. Keine Schlangen fielen von ihr ab und auch kein Mann…
Es war nur ein Traum gewesen.
Erst jetzt bemerkte sie das tumultartige Stimmengewirr im Lager. Schreie gellten durch die Nacht. Äste brachen. So schnell sie konnte, schlüpfte Yeremi in ihre kurze Baumwollhose, pellte sich aus dem schweißnassen Hemd und streifte sich ein T-Shirt über. Dann taumelte sie mit ihrer Taschenlampe zwischen die Zelte hinaus. Sie ahnte längst, was geschehen war.
Die sonst so nüchternen Wissenschaftler waren bis ins Mark erschüttert. Unter den Wai-Wai-Indianern herrschte helle Aufregung. Sie liefen wie aufgescheuchte Hühner umher. Mindestens einer war spurlos verschwunden.
Nur mühsam gelang es Yeremi und Leary, die Gruppe einigermaßen zu beruhigen. Der Psychologe bestätigte Yeremis Verdacht, wenngleich sie seine Einschätzung eher befremdete.
»Das ist faszinierend!«, schwärmte er. »Alle im Lager hatten einen Albtraum, aber diesmal trafen die Silbernen unseren empfindlichsten Nerv, bei jedem Einzelnen.«
»Bist du jetzt völlig durchgedreht?«, fuhr sie ihn an. Learys strahlendes Gesicht ließ sie unwillkürlich zurückweichen. »Wie kannst du das ›faszinierend‹ finden?«
»Aber überleg doch mal, Jerry. Ihre Fähigkeiten übersteigen bei weitem das, was wir uns erhofft haben.«
»Du hast dir so etwas gewünscht? Also entweder ist dein Traum die absolute Ausnahme gewesen, oder du hast tatsächlich deinen Verstand ausgeschwitzt.«
»Ich habe von Geißelspinnen geträumt«, erwiderte er kühl. »Mein ganzer Körper war davon bedeckt. Sie saugten mich aus, und ich konnte nichts dagegen tun.«
Yeremi erschauerte. Die von Leary erwähnten »Traumtiere« konnten größer werden als gewöhnliche Vogelspinnen. In etwas milderem Ton entgegnete sie: »Vielleicht hilft dir ja dein Army-Überlebenstraining, leichter damit umzugehen.«
Leary schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Spinnenphobie.«
»Aber das…!«
»Das bedeutet, Jerry, die Silbernen verfügen über die Fähigkeit, unsere Urängste zu wecken. Sie sind empathische Telepathen. Das steht für mich zweifelsfrei fest.«
Yeremi blickte sich Hilfe suchend in der Runde der Expeditionsteilnehmer um, die viel zu eingeschüchtert waren, um sich für einen wissenschaftlichen Disput zu begeistern. Sie selbst sträubte sich noch immer dagegen, die Meinung des Psychologen zu teilen. Es musste doch einfachere Erklärungen geben! Sein überraschendes Auftauchen in ihrem Zelt hatte sie in einer schwachen Minute zutiefst erschreckt. War es verwunderlich, wenn sie…? Für alle waren die letzten Stunden und Tage strapaziös gewesen. Jeder hatte viele neue Eindrücke verarbeiten, überkommene Vorstellungen über Bord werfen, sich mit uralten Legenden und Weltuntergangsprophezeiungen herumschlagen müssen. Möglicherweise war dadurch eine
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