Der silberne Sinn
sprechen begann, drückte er sich vage und vieldeutig aus. »Zeige mir einen Baum, der nur einen einzigen Wurzelstrang besitzt. Nährt sich nicht jeder Stamm aus vielen Verästelungen?«
»Sagt Ihnen der Name Karnak etwas?«, hakte Yeremi sofort nach und erhoffte sich eine ebenso schnelle Antwort auf ihre doppelbödige Frage. El-Karnak war schließlich nicht nur ein bedeutendes Kultzentrum in Oberägypten, sondern – Zufall? – auch eine andere Schreibweise des französischen Carnac, das im Vogelflug lediglich acht Meilen von Gavrinis, dem angeblichen Atlantis, entfernt lag.
Saraf durchschaute ihre List. Seine unergründlichen Augen blickten Yeremi forschend an, es war ein stilles Ringen, das er mit einem geheimnisvollen Lächeln beendete. »Die Überlieferungen meiner Familie reichen bis nach Kerne zurück, das im Land Armorika liegt.«
Yeremi spürte, wie Greenleaf – er saß zwei Stühle weiter rechts – unruhig wurde. »Das kann unmöglich nur Zufall sein!«, stieß er hervor. »Armorika ist keltisch und bedeutet ›am Rande des Meeres‹, und Kerne ist der alte Name des französischen Carnac, das in der bretonischen Sprache Karnak heißt – mit K geschrieben.«
»Und das ist noch nicht alles«, fügte Hamilton-Longhorne hinzu. Die Fünfzigjährige war aufgeregt wie ein Schulmädchen. »Die Silbernen nennen ihre Petroglyphen Tara. Bei den kanarischen Guanchen bedeutet dieses Wort ›Zeichen, Erinnerung‹, aber es steht auch für den Namen der großen Urmutter. Erstaunlicherweise wird auch in Platons Atlantis-Bericht gesagt, das Volk des sagenhaften Reiches habe die Göttin Tara verehrt!«
»Die Weißen Götter«, sagte Leary, zufrieden nickend, als wäre damit alles erklärt.
Selbst Yeremi konnte die vielen Hinweise nicht länger ignorieren. Inzwischen lagen die Ergebnisse der Saraf entnommenen Blutprobe vor. Resultat: Null, Rhesusfaktor negativ. In den Adern des Hüters pulsierte also jene Rezeptur des Lebenssaftes, die laut Hamilton-Longhorne kennzeichnend war für die noch in Irland, in der Bretagne und auf den Kanarischen Inseln lebenden Nachfahren der Cromagnon, der so genannten »ersten modernen Menschen«. Die Verbindung des Silbernen Volkes zu jenen frühen Seefahrern, die – möglicherweise Jahrtausende vor Kolumbus – den Atlantik überquerten, schien auf der Hand zu liegen.
»Wir danken Ihnen für Ihre bereitwilligen Auskünfte«, wandte Yeremi sich erneut an Saraf Argyr. Mit dieser Übertreibung wollte sie seine Zunge für die Antwort auf ihre nächste Frage lockern. »Wie ist das Silberne Volk später hierher gekommen?« Saraf war viel zu wachsam, um sich von Schmeicheleien einwickeln zu lassen. Als wolle er Yeremi für ihre Überrumpelungstaktik strafen, wurden seine Schilderungen eher noch unpräziser. Nicht viel anders als bei einer archäologischen Ausgrabung, die nur Bruchstücke alter Dokumente zu Tage förderte, mussten sich die Wissenschaftler ihre Fassung von der Wirklichkeit zusammenreimen.
Mit dem Auftauchen der Konquistadoren hatte sich das Leben der Silbernen offenbar schlagartig verändert. Wie andere Ureinwohner der Neuen Welt starben sie fast völlig aus, möglicherweise durch Pocken oder eine andere Seuche. Nur seine kleine Sippe von einhundertzweiundzwanzig Menschen habe die Zeit überdauert, erklärte Saraf. Vor etlichen Silberjahren seien sie an diesen verborgenen Ort geflohen, um ihr Erbe zu bewahren, bis die Weissagungen sich erfüllten. Der Hüter war vom Großen Rat überstimmt worden, als man über den Bau der drei Hallen befand. Anders als die Mehrzahl der Ratsmitglieder hatte er für sich persönlich mit den alten Kulten gebrochen, weil durch das Schicksal seines Volkes die Machtlosigkeit der Urmutter und des Phönix bewiesen worden sei. Dennoch habe er sich durch das gewaltige Bauvorhaben die Einigung des untereinander zerstrittenen Volkes erhofft. Als die drei großen Hallen nach acht Silberjahren endlich eingeweiht werden konnten, hatte sich sein Wunsch erfüllt.
»Beinahe jedenfalls«, fügte Saraf mit einem tiefgründigen Blick auf Ugranfir hinzu.
»Sie haben mehrmals den Begriff ›Silberjahre‹ benutzt, Saraf. Was bedeutet das?«, fragte Yeremi.
Der Hüter antwortete darauf erstaunlich genau. »Ein Kreis aus zwölf Mondjahren schließt sich zu einem Silberjahr zusammen.«
»Solche übergeordneten Zyklen sind in alten Hochkulturen nichts Außergewöhnliches«, warf Gil Burne ein. Der Astroarchäologe des Teams, ein kleiner Mann, Ende dreißig, von
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