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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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versprechender Anfang, dachte Yeremi und fühlte sich dabei trotzdem nicht wohl.
    Was hatte Saraf Argyr mit seiner Antwort gemeint, als sie ihn nach einschneidenden Umwälzungen in der Zukunft seines Volkes fragte? Gäbe es die nicht, hätten wir euch niemals hierher gelassen…
    Sie schlug die Klappe ihres Zweipersonenzeltes hoch, schlüpfte hinein und legte sich in voller Bekleidung unter das Moskitonetz. Der Schweiß stand ihr auf der Haut, sie fühlte sich ausgelaugt, aber sie schloss einfach die Augen und betrat dadurch einen Raum kühler Stille. Je tiefer sie sich in ihre Gedanken versenkte, desto weniger nahm sie von ihrer Umgebung wahr.
    Noch immer fiel es ihr schwer, die Entdeckung des Silbernen Volkes einzuordnen. In der Welt jenseits des Gartens Gottes zierte der Name von Professor Yeremi R. Bellman bereits die Titelseiten bedeutender Tageszeitungen. Bald würden Hochglanzmagazine hinzukommen, Fachzeitschriften, populärwissenschaftliche Publikationen, Rundfunk, Fernsehen und vieles mehr. Natürlich freute sie sich über jede Anerkennung, die sie für ihre Arbeit bekam, aber der Medienrummel bedeutete ihr wenig. Ganz im Gegensatz zu Al…
    Ein Geräusch ließ sie hochfahren. Jenseits des Moskitonetzes stand unter dem spitzen Zeltdach, leicht gebeugt, die Gestalt eines Mannes. Sie schaltete die Taschenlampe an.
    »Madre mia! Al, wie kannst du mich so erschrecken!?« Sie raffte wütend das feinmaschige Gewebe zusammen, das sie vor Blutsaugern schützen sollte, und warf es sich nach hinten über den Kopf. Wie eine Rakete stieg sie von ihrer Schlafmatte auf und zischte: »Was hast du in meinem Zelt verloren? Ich dachte, wir hätten vor Jahren eine Abmachung getroffen. Raus hier!«
    »Aber ich wollte…«
    »Raus, habe ich gesagt, sonst schreie ich das ganze Lager zusammen!«
    Eilig zog sich der Psychologe hinter die Grenzlinie zurück, die durch die Zeltplane markiert wurde. »Ich wollte dir lediglich etwas mitteilen«, begann er erneut.
    »Und warum tust du ‘s nicht?«
    Er stieß hörbar die Luft durch die Nase aus, sagte dann aber bewundernswert ruhig: »Morgen früh brauche ich Wachana.«
    »Wieso, willst du Nabelschweine jagen?«
    »Ich möchte mich mit einigen Mitgliedern des Großen Rates unterhalten – vertrauensbildende Maßnahmen, du weißt schon.«
    »Wir sind für morgen ohnehin zu einer Besprechung in die Höhlen eingeladen…«
    »Hör mir zu, Jerry! Das bringt uns nicht weiter. Es ist mein Beruf, mit aufgeregten Leuten zu reden und ihre Ängste zu zerstreuen. Gib mir eine Chance.«
    Zornig funkelten Yeremis Augen im Schatten des Zeltes. Die hast du längst verspielt, Al Leary. »Also gut«, lenkte sie ein. »Adma wird uns gegen neun Uhr zum Treffen in der Halle des Großen Rates abholen. Für die Zeit davor kannst du Wachana haben – unter einer Bedingung!«
    »Und die wäre?«
    »Betrete niemals wieder unaufgefordert mein Zelt.«
     
     
    Yeremi ließ sich nur kurz bei den feiernden Kollegen blicken. Von Unsworth’ kulinarischen Eskapaden hielt sie sich fern, nippte nur einmal an dem uralten Cognac, den er nach eigenem Bekunden ausschließlich ins Gepäck geschmuggelt hatte, um sein gegrilltes Gürteltier zu krönen.
    Um elf lag Yeremi wieder auf ihrer Schlafmatte und ließ sich von dem leichten Luftzug umfächeln, der durch die Netzfenster des Zeltes strich. Weil sie nicht ernsthaft mit einer Rückkehr Learys oder dem Auftauchen irgendeines anderen männlichen Expeditionsteilnehmers rechnete, trug sie nur einen Slip und ein kurzes, hauchdünnes Hemd. Als gegen ein Uhr morgens endlich Ruhe im Lager einkehrte, schlief sie bereits tief und fest.
    Es sollte ein kurzer Schlummer werden. Sie wurde von einem schnarrenden Geräusch geweckt, das sich aus dem üblichen Nachtkonzert des Dschungels deutlich abhob. Es kam ganz aus der Nähe. Unwillkürlich dachte sie an ein schreckliches Erlebnis in Brasilien, als ein Expeditionsmitglied den Biss der Cascaval, einer tropischen Klapperschlange, nur knapp überlebt hatte. Lytton wusste vermutlich, ob diese Grubenottern auch im Dschungel Guyanas vorkamen – in seiner Kühlbox befanden sich Seren gegen die verbreitetsten Schlangengifte –, aber Yeremis Kopf war in diesem Augenblick wie leer gefegt. Was immer sie in Vorbereitung auf die Expedition gelernt hatte, existierte nicht mehr.
    Wieder hörte sie das leise Rasseln! Es klang näher als beim ersten Mal. Und dann fühlte sie es: Ein warmer, rauer Körper berührte ihren Knöchel. Augenblicklich

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