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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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untersetzter Statur mit schütterem blondem Haar, besaß eine Leidenschaft für Zahlen. Er nahm die Brille von der Nase, begann sie mit seinem T-Shirt zu putzen und sagte mit zurückgelegtem Kopf: »Bei verschiedenen Indianervölkern wie den Maya kannte man das ›große Sonnenjahr‹. Es besteht aus zweiundfünfzig normalen Jahren. Sie glaubten, nach einem oder zwei großen Sonnenjahren vollziehe sich jeweils eine grundlegende Veränderung der Welt. An solchen Wendepunkten im Zeitstrom hat es ihren Legenden zufolge bereits vier große Katastrophen gegeben. Die fünfte soll noch ausstehen und der Menschheit möglicherweise den Untergang…«
    »Wir kommen vom Thema ab, Gil«, unterbrach Yeremi ihn ungeduldig.
    »Nicht unbedingt. Wie Sie selbst gesagt haben, beträgt der Neigungswinkel der Seitenwände in dieser Hohlpyramide exakt zweiundfünfzig Grad.«
    »Das klassische Pyramidenmaß, das sich auch in Giseh findet – na und?«
    »Vielleicht ist die Übereinstimmung mit der Kernzahl des großen Sonnenjahrs kein Zufall. Ich möchte gerne einige zusätzliche Messungen und Berechnungen anstellen, um zu überprüfen, ob das Silberne Volk hier auch eine Zahlensymbolik verwendet, wie sie beispielsweise in der Kultstätte des Kukulcan zu beobachten ist. Einige Theorien behaupten, der ausgeklügelte Maya-Kalender gehe auf die Olmeken zurück, von denen wiederum gesagt wird…«
    »Sie seien in Wirklichkeit Phönizier gewesen«, fiel Yeremi dem Wissenschaftler abermals ins Wort. »Wehe, Sie verraten dieser Tracy von CNN auch nur ein Sterbenswörtchen davon! Ansonsten dürfen Sie gerne alle nötigen Berechnungen vornehmen, Gil, solange unsere Gastgeber sich dadurch nicht gestört fühlen.« Nachdenklich wandte sie sich wieder dem Hüter zu. »Gibt es eigentlich in Ihren Überlieferungen Warnungen vor einem Unglück oder einer tief greifenden Veränderung für das Silberne Volk?«
    Zu ihrer Überraschung zögerte Saraf auffällig lange, bis er schließlich antwortete: »Gäbe es die nicht, hätten wir euch niemals hierher gelassen.«
     
     
    Sie erreichte das Lager gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit. In Äquatornähe fiel die Nacht so schnell wie ein schwarzer Theatervorhang herab. Yeremi würde sich wohl nie daran gewöhnen. Ohne eine Handlampe hätte sie sich auf dem schmalen Felssteig, der zu den Zelten hinabführte, leicht den Hals brechen können.
    Norryl Unsworth empfing sie mit strahlender Miene und einer riesigen Fleischgabel in der Hand. »Ich hoffe, Sie haben Hunger mitgebracht, Yeremi. Heute wird nämlich unser Erfolg gefeiert.«
    »Mit Nabelschwein á la Norryl?«
    »Die Wai-Wais haben noch ein paar andere Leckerbissen geschossen: ein Gürteltier, einen Brüllaffen, eine…«
    »Ich glaube, ich lege mich gleich hin, Norryl.«
    »Seien Sie kein Spielverderber, Yeremi! Als Boss haben Sie schließlich gesellschaftliche Verpflichtungen…«
    »Vielleicht stoße ich später noch zu Ihnen, aber jetzt brauche ich Ruhe.«
    Unsworth nickte und winkte Yeremi zum Abschied mit seiner Gabel zu.
    Der Nächste, dem sie auf ihrem Weg zum Zelt begegnete, war Dave Clarke. Der Botaniker kehrte gerade von einem Streifzug durch den Wald zurück.
    »Na, was gefangen?«, erkundigte sich Yeremi.
    Clarke rückte die Tasche mit den Proben auf der Schulter zurecht. »Mir ist ein hübsches Lycopodium in die Arme gelaufen, ein urzeitlich anmutendes lebendes Fossil.«
    »Klingt wahnsinnig aufregend!«
    »Sie haben ja keine Ahnung, wie hinreißend Bärlappgewächse sein können!«
    Yeremi lachte. »Da dürften Sie allerdings Recht haben, Dave. Ich bewundere die Geduld, mit der Sie die unscheinbarsten Pflänzchen aus diesem wuchernden Organismus klauben.«
    »Sammeln ist der Anfang der Erkenntnis.«
    »Das ist wohl wahr! Bis später, Dave.« Sie hob die Hand zum Gruß und strebte weiter ihrem Zelt entgegen. Es stand ganz am Rande des Lagers. Seien Sie kein Spielverderber, Yeremi! Norryl hatte mit seiner Bemerkung, vermutlich ohne es zu ahnen, einen empfindlichen Nerv getroffen. Anstatt mit den anderen zu feiern, sonderte sie sich ab…
    Im Lager brannten eine Reihe von Lampen. Weiße Menschen rieben sich mit Insektenschutzmitteln ein, und rote sahen ihnen grinsend dabei zu. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie seit Beginn der Expedition nicht mehr. Abgesehen von den wenigen Silbernen, die ihre Abneigung gegen die Fremdlinge offen zur Schau trugen, herrschte unter Besuchern wie Gastgebern Eintracht und Frieden. Ein viel

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