Der silberne Sinn
mentale Verfassung entstanden, in der solche furchtbaren Albträume gediehen…
Sie schüttelte den Kopf. All diese Erklärungen waren doch nur Ausflüchte, um sich nicht vor versammelter Mannschaft auf Learys Seite stellen zu müssen. »Mir erscheint etwas ganz anderes unzweifelhaft«, sagte sie leise. Resignation schwang in ihrer Stimme, und sie fühlte die auf ihr lastenden Blicke.
»Wir sind hier nicht willkommen; und sollte dieser Zustand anhalten, wird unsere Expedition kein gutes Ende nehmen.«
Zwei Indianer blieben verschwunden. Yeremi rechnete mit dem Schlimmsten: ein der Abschreckung dienendes Exempel der »Hausherren«, vielleicht auch ein tödlicher Unfall der in Panik durch den nächtlichen Wald Geflohenen – aber warum hatten sie dann ihre Waffen mitgenommen? Vor Beginn der vereinbarten Besprechung in der Halle des Großen Rates stellte sie Wachana zur Rede, um zu erfahren, was wirklich geschehen war. Zögerlich rückte der Wai-Wai mit der Wahrheit heraus.
»Die beiden hatten große Furcht vor den bösen weißen Geistern. Sie sind in den Wald gerannt und vor Tagesanbruch zurückgekehrt, um ihre Sachen zu holen. Jetzt sind sie auf dem Rückweg nach Gunn’s Strip.«
»Vermutlich sitzen sie längst in einem unserer Kanus«, sagte Yeremi grimmig. »Bitte versuche, die Gemüter deiner Männer abzukühlen, Wachana. Wenn wir die Lage nicht endlich in den Griff bekommen, haben wir bald überhaupt keine Helfer mehr.« Der Indianer nickte.
Sie wandte sich an Leary. »Al, was immer hier mit uns geschieht, wir müssen endlich etwas dagegen unternehmen. Hast du in deinem Gespräch mit den Skeptikern etwas erreicht?«
»Das wird sich zeigen.«
»Also nicht. Dann werde ich mir diesen Saraf Argyr vorknöpfen.«
Wie auf ein Stichwort erschien die riesenhafte Gestalt des Hüters im Durchlass der Halle, im Gefolge sechs Mitglieder des Großen Rates, darunter Ugranfir.
»Ich bin bereits über die Vorfälle der letzten Nacht in Kenntnis gesetzt«, eröffnete Saraf die Debatte, noch ehe Yeremi das Thema ansprechen konnte.
»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Yeremi kühl.
»Du denkst, ich hätte euch diese Träume geschickt, nicht wahr, Yeremi Bellman?« Es klang eher bedauernd als anklagend.
Sie wich seinem Blick aus, um das beklemmende Gefühl abzuwehren, er läse mühelos ihre Gedanken. Bei Ugranfir mit seiner feindseligen Miene wusste sie wenigstens, woran sie war. Betont langsam antwortete sie: »Wäre das so abwegig? Immerhin scheinen wir hier nicht besonders willkommen zu sein.«
»Das habe ich nie verhehlt. Doch mir sind die Männer und Frauen bekannt, die euch heute Nacht vertreiben wollten, und sie werden für ihr Vergehen bestraft.«
Verwundert kehrte Yeremis Blick zu Saraf zurück. »Dann geben Sie es also zu? Die Träume stammen von Ihren Leuten?«
»Es ist ein wenig komplizierter.«
»Wie wär ‘s, wenn Sie’s mir erklärten?«
»Niemand von uns kann einen Traum in eure Köpfe schreiben.«
»Was bedeutet das?«
»Stell dir die Träume als eine Schuttlawine vor – wir lösen sie durch ein winziges Steinchen aus und bestimmen, wo und wann sie abgeht. Der kleine Verursacher ist ein Gefühl, das Wo entscheidet darüber, ob es angenehme oder schmerzliche Empfindungen sind, und das Wann ist der Zeitpunkt, den wir wählen.«
Auf Learys Gesicht lag ein Ausdruck des Triumphes. »Sie sprechen immer in der Mehrzahl, Saraf.«
»Gewöhnlich ist die Gabe nur stark genug, wenn sich mehrere von uns zusammenschließen.«
Yeremis Augen weiteten sich wie die eines staunenden Kindes. Sie ahnte längst, was Sarafs bildhafte Erklärungen bedeuteten, aber sie fragte dennoch: »Und wie macht ihr das?«
Der Hüter sah sie unverwandt an und erwiderte: »Mit dem ›Silbernen Sinn‹.«
Allein die Möglichkeit, so vage sie auch sein mochte, erschreckte Yeremi. Jede Art von Beeinflussung ihrer Gefühle und Gedanken war ihr zuwider. Sie weigerte sich, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen – und deshalb leugnete sie die von Al aufgezählten Fakten.
»Wir müssen streng objektiv vorgehen, Al. Na gut, ich gebe zu, da gibt es irgendetwas. Aber dieser Silberne Sinn – das kann alles Mögliche sein.«
Der Psychologe verfolgte belustigt, wie hartnäckig sie sich gegen eine Vorstellung sträubte, die er für bewiesen hielt. Die beiden standen allein auf dem Dach des Waldes. Leary hatte Yeremi um eine Aussprache unter vier Augen gebeten. »Es handelt sich eindeutig um
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