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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Höhlen isoliert, und die Mehrzahl der Silbernen lebte noch. Während vier Helfer bei den Sterbenden blieben, brach die zweite Hälfte des Teams zur Höhle der Begegnungen auf. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde man dort auf die Hauptgruppe der Silbernen stoßen. Die Vermutung bestätigte sich auf schreckliche Weise.
    In der großen Hohlpyramide wurden über achtzig Leichen gefunden. Vermutlich hatten sich alle, die noch nicht infiziert gewesen waren, hier angesteckt. Der Anblick war entsetzlich. An manchen Stellen lagen die Toten aufgereiht wie Puppen in einer Lagerhalle. Hier und da sah man Frauen und Männer in enger Umarmung…
    Während Yeremi auf ihrem Feldbett saß und den Bericht des Arztes verfolgte, begann ihr Herz immer heftiger zu schlagen. Vor ihrem inneren Auge entstand ein Bild des Schreckens, das von einer ähnlichen Szenerie überblendet wurde, die sie lange verdrängt hatte. Damals war sie als eine der wenigen Überlebenden dem Massensterben entronnen. Was hatte sie falsch gemacht? Warum war sie nicht einmal in der Lage gewesen, ihre Eltern zu retten? Über die Jahre hatte Yeremi das Gefühl der Schuld in ihrem Unterbewusstsein verkapselt, so wie der Körper einen eingedrungenen Fremdkörper mit Gewebe umhüllt, ohne ihn jedoch am schmerzvollen Wandern zu hindern. Nun war dieses Projektil wieder in Bewegung geraten, heftiger als je zuvor.
    Lytton bemerkte ihre zunehmende Erregung nicht sogleich, sondern schilderte in seiner sachlichen Art den dutzendfachen Tod. Seine Stimme klang seltsam gedämpft in Yeremis Ohren. Alles um sie herum wirkte verzerrt. Die Halluzinationen waren sekundenlang erschreckend real: Sie sah aufgedunsene Leiber von Kindern und alten Leuten, von weißen und schwarzen Menschen, die unter der spitzen Decke der Hohlpyramiden neben- und übereinander lagen. Und dann erblickte sie ihre Mutter…
    Yeremi schrie!
    Lytton hielt erschrocken inne. »Was ist…?« Er sprang von seinem Stuhl auf und nahm ihr Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen.
    »Welches Datum haben wir heute?«, keuchte Yeremi.
    »Was spielt das jetzt für eine Rolle…«
    »Was für einen Tag?«, schrie Yeremi. »Sagen Sie ‘s mir!«
    »Heute ist der 18. November 2005.«
    Yeremi schloss die Augen und ließ sich kraftlos auf ihr Kissen zurücksinken. Tränen schossen hervor. Sie schüttelte immer wieder den Kopf. »Ich bin an allem schuld«, murmelte sie. »Ich habe sie auf dem Gewissen…«
    »Was reden Sie da!«, widersprach Lytton energisch. »Sie haben keinerlei Veranlassung, sich schuldig zu fühlen.«
    »Doch!«, brach es aus Yeremi hervor. »Sie haben ja keine Ahnung! Heute vor siebenundzwanzig Jahren kam der Tod über Jonestown, mehr als neunhundert Menschen verloren dabei ihr Leben – dasselbe Land, der gleiche Tag. Ich bin damals nicht umgekommen, weil der Sensenmann mich noch für andere Zwecke brauchte. Wer mir zu nahe kommt, der…« Yeremis Stimme versiegte, und sie begann heftig zu weinen.
    Lytton war nicht sehr geschickt im Trösten. Er tätschelte Yeremis Hand und suchte nach passenden Worten. »Im Moment empfinden Sie so, meine Liebe, aber glauben Sie mir, dieses Schuldgefühl ist ein böser Streich Ihrer überstrapazierten Nerven. Überlegen wir doch einmal logisch: Selbst wenn der Zufall Sie mit diesen Ähnlichkeiten narrt, gibt es keinen logischen Grund, warum das Schicksal Sie zweimal zur Schlüsselperson einer solchen Tragödie auswählen sollte.«
    Yeremi wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und blickte Lytton ernst an. »Ich glaube nicht an das Schicksal, Percey. Wenn mir diese Rolle zugedacht war, dann von etwas anderem.«
     
     
    Während ihres Studiums hatte Yeremi bisweilen geringschätzig über die Konquistadoren gedacht. Es war so leicht, ihnen die Schuld an der Ausrottung der vielen eingeborenen Stämme Amerikas zu geben, deren Immunkräfte den aus Europa eingeschleppten Krankheiten nichts entgegenzusetzen hatten. Nun war sie selbst zu einem Todesengel geworden – jedenfalls fühlte sie sich so.
    Sie bekam jedoch keine einzige Leiche zu sehen. Nur einen Tag nachdem das ganze schreckliche Ausmaß der Tragödie offenbar geworden war, ließ Hoogeven die Höhlen des Orion weiträumig absperren. Selbst Doktor Lytton wurde jede weitere Untersuchung der Leichen untersagt. Das Gesundheitsministerium in Georgetown erteilte die strenge Order, die Seuche mit allen Mitteln zu bekämpfen. In der Hauptstadt fürchtete man das Schlimmste; sogar eine Infektion mit einer

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