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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schweren Träumen, und wir nahmen ihre Visionen nicht ernst. Aber dann sah ich die gelben Geister mit eigenen Augen. Zuerst glaubte ich, nun selbst einen bösen Traum zu haben, aber dann…«
    »Du hattest Angst.«
    Sofort war sein Blick wieder klar. »Nie habe ich solche Wesen gesehen.«
    »Es ist keine Schande, sich zu fürchten, Saraf.«
    »Wie du das sagst… Als spräche meine Mutter zu mir: ›Angst ist ein Schutz, mein Sohn. Nutze sie…‹« Sarafs Gedanken schienen in unerreichbare Ferne abzuschweifen. Yeremi hielt es für angebracht, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen.
    »Wie ging es dann weiter?«
    »Ich habe meine Furcht bezwungen, mir den Jagddolch gegriffen und einen der gelben Geister verfolgt, fest entschlossen, mich auf ihn zu stürzen, sollte er einem von uns auch nur ein Haar krümmen.«
    »Kannst du die… Geister etwas genauer beschreiben?«
    »Sie sahen aus wie Menschen und doch ganz anders. Ihr Kopf war groß wie ein Wasserkübel, sie besaßen nur ein einziges Auge, und ihre Haut…« Saraf schauderte. »Sie war gelb und schlackerte um ihren Körper. In den Händen hielten sie einen glänzenden Zauberstab.«
    »Warum haben sie euch deiner Meinung nach… heimgesucht!«
    » Was für eine merkwürdige Frage! Sie kamen, um uns zu töten. Schrecklicherweise ist mir das erst später klar geworden. Zunächst war ich zu verwirrt. Ich wagte nicht, den Silbernen Sinn einzusetzen, weil ich mich nicht verraten wollte. Dieserhalb heftete ich mich an die Fersen des einen. Er schlich durch unsere Gänge und Höhlen, als suche er jemand Bestimmten. Selbst an finsteren Stellen verlangsamte er seinen Schritt nicht. Er muss in der Dunkelheit genauso gut sehen können wie wir, dachte ich, also werden er und seine Mitgenossen aus den unerschlossenen Tiefen des Berges zu uns heraufgestiegen sein. Umso verwunderlicher war für mich ihr späteres Zusammentreffen in der Nähe des Haupteingangs. Zwei schoben eine Art Sänfte vor sich her, die aber keinerlei Träger bedurfte. Auf ihr nahmen sie unsere heiligen Schriften mit. Gemeinsam verließen sie die Höhlen durch die Knochenpforte und kehrten nicht mehr zurück…«
    Yeremi hatte bis zu diesem Punkt angespannt Sarafs Bericht verfolgt, doch jetzt konnte sie nicht länger an sich halten. »Heilige Schriften? Wir haben, abgesehen von den Tafeln in der Halle des Gebets, nie irgendwelche Aufzeichnungen bei euch gesehen.«
    »Die Knotenschnüre waren gut versteckt«, erwiderte Saraf müde.
    »Schnüre? Etwa Quipus, wie die Inka sie verwendet haben?«
    »Du bist ein stetig sprudelnder Quell von Überraschungen für mich, Yeremi Bellman.«
    »Also waren es Quipus – ein einfaches Ja hätte auch genügt. Was enthalten sie?«
    Saraf klang ein wenig gekränkt, als er antwortete: »Wir nennen sie azofa, was in unserer Sprache ›Quelle‹ bedeutet; die Knotenschnüre der Inka sind ärmlich gegen unsere Schriften. Das Silberne Volk hat sein uraltes Wissen in wesentlich reicherer Form bewahrt.«
    »Uraltes Wissen?«, wiederholte Yeremi murmelnd und mit gläsernem Blick – richtete jedoch gleich hellwach die nächste Frage an den Silbermann. »Hat irgendjemand aus dem Team von diesen Knotenschnüren gewusst?«
    »Darauf zu antworten fällt mir schwer…«
    »Wieso?«
    »Ich habe vielen Gesprächen, die deine Leute mit uns führten, nicht beigewohnt. Vor allem der Mann, der sich Al Leary nennt, ist nie müde geworden, mein Volk nach dem Fühlsinn auszuhorchen…«
    »Fühlsinn? Sind er und der Silberne Sinn ein und dasselbe?«
    »Ja, jeder Mensch besitzt, wie wir glauben, diese Fähigkeit, wenngleich nicht jeder sie in sich entfalten lässt. Wir messen ihr ein großes Gewicht zu, und deshalb haben wir ihr viele Namen gegeben: Silberner Sinn, Fühlsinn, manchmal nennen wir sie auch die ›Gabe der Gefühlsspieler‹. Sie hilft uns dabei, ein Übergewicht Hirguans zu verhindern.«
    »Du hast dieses Wort schon einmal benutzt. Was bedeutet es?«
    »Hirguan steht für das Böse, Abora hingegen ist das Prinzip des Guten, Edlen und Reinen.«
    Yeremi nickte. »Die gelben Geister haben eine Spur des Todes zurückgelassen. Ich kann gut verstehen, warum du sie für eine Verkörperung des Bösen hältst.«
    Er schöpfte tief Atem und stieß die Luft in einem langen Seufzer aus. »Wenn ich nur Klarheit hätte, warum Hirguan mich als Einzigen verschonte!«
    Das war tatsächlich merkwürdig. Yeremi sog ihre Oberlippe in den Mund und begann daran zu lutschen. Mit einem Mal wurden ihre Augen

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