Der silberne Sinn
Dornröschenschloss aus längst vergangener Zeit. Hier erhoffte sich Yeremi, jene Ruhe zu finden, die sie so dringend brauchte, um Saraf auf das Leben in der Zivilisation vorzubereiten. Wenn sie an den Schauder zurückdachte, den ihr vor einigen Wochen noch die Vorstellung an eine Nacht im Pegasus bereitet hatte, dann musste sie allerdings lächeln. Irgendetwas war mit ihr im Dschungel geschehen. Die Schatten der Vergangenheit hellten sich ganz allmählich auf, und bei dieser Veränderung spielte Saraf Argyr eine wichtige Rolle. Yeremi wusste nur noch nicht welche.
Als das kleine Taxi in der Quamina Street hielt, war es bereits dunkel. Yeremi musste mit dem Fuß nachhelfen, um die Tür des Wagens aufzustoßen. Erst quollen Einkaufstüten von Twinankle heraus, dann folgten die Passagiere. Der Fahrer zerrte derweil die Rucksäcke aus dem Kofferraum. Noch ganz unter dem Eindruck des großzügigen Trinkgeldes stehend, ließ er sich dazu hinreißen, das Gepäck in die Hotelhalle zu schleppen.
Saraf beobachtete jede Bewegung des Mannes. Seine Wachsamkeit beruhte nicht auf Misstrauen, sondern auf einem großen Staunen, das ihn nicht mehr loslassen wollte. Alles für ihn war neu, fremd, sonderbar.
An seiner Seite, dem Taxifahrer mit den Rucksäcken immer dicht auf den Fersen, durchquerte Yeremi den vorderen Garten des Hotels. Eigentlich bestand es aus zwei Gebäuden, die aus den Vierzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts stammten. Mit seiner weiß lackierten Holzfassade und den überdachten Baikonen besaß die Cara Lodge jenen viktorianisch-kolonialen Charme, dem man sich nur schwer entziehen konnte.
Als die neuen Gäste in das weihnachtlich dekorierte Foyer traten, strahlte ihnen von dem roten Holztresen der Rezeption ein weibliches Gesicht entgegen. Yeremi dankte dem Taxifahrer und nannte der molligen schwarzen Empfangsdame ihren Namen. Die nickte und lächelte Saraf erwartungsvoll an, dessen Miene die Freundlichkeit wie ein Spiegel zurückwarf.
Damit begann ein heiteres Schweigen, das Yeremi schließlich mit dem Hinweis beendete: »Er spricht Spanisch.«
»No hay problema!«, entfuhr es ihrem Gegenüber, das die Problemlosigkeit des Sprachwechsels auch sofort unter Beweis stellte, als es sich nach dem vollständigen Namen des Gastes erkundigte.
»Silverman«, erwiderte Yeremi. »Saraf A. Silverman.«
»Alter: vierzig. Hautfarbe: silbern. Und mein Geschlecht…«, begann der, ehe sie ihm das Wort abschneiden konnte.
»Das genügt vorerst, mein Lieber.« Für eine Sekunde hatte Yeremi ihm die Hand auf den Arm gelegt, zog sie aber schnell wieder zurück, um sich mit einem bemühten Lächeln bei der Rezeptionistin zu entschuldigen. »Ich habe die Suite auf meinen Namen reserviert.«
Die Empfangsdame verdaute noch Sarafs Personalien. »Warum hat er einen englischen Namen, wenn er doch…?«
»Adoptiert«, erwiderte Yeremi. »Genau genommen handelt es sich um eine Patenschaft.«
»Ahaaa!«, machte Lisa Martinez – ein Schild an ihrer bunten Bluse identifizierte sie als ebendiese. Nur mit Mühe konnte sie sich von Mr Silvermans Anblick losreißen. Sie verlagerte wie in Zeitlupe ihre Aufmerksamkeit auf eine Computertastatur, die sie bald heftig, wenn auch unter Beibehaltung ihres Lächelns, traktierte. Saraf staunte.
Das fröhliche Tippen dauerte nach Yeremis Empfinden ungewöhnlich lang. Sie hatte ihre Reservierung vom Dschungel aus über das Internet vorgenommen. Hoffentlich war die Buchung nicht einem Virus zum Opfer gefallen. Endlich riss sich die Dame vom Monitor los und strahlte nun wieder die Gäste an.
»Sie hatten eine Suite mit zwei Schlafräumen bestellt, Professor Bellman?«
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Yeremi.
»Ich kann Ihnen die Quamina-Suite anbieten. Sie geht über die gesamte Breite und die halbe Länge des Hotels…«
»Aber?«
»Sie hat keine zwei Schlafzimmer.«
»Das ist schlecht.« Yeremi warf einen Seitenblick auf Saraf, der Lisa Martinez zu erhöhten Anstrengungen anstachelte.
»Im Wohnzimmer gibt es ein Sofa, das sich zu einem Bett ausklappen lässt.«
»Das genügt nicht.«
»Wofür?« Die Empfangsdame schüttelte über sich selbst den Kopf und fügte schnell hinzu: »Entschuldigung, ich wollte natürlich fragen: Was genau haben Sie sich vorgestellt?«
Wenn ich das nur wüsste!, jammerte Yeremi in Gedanken. Eine Nacht mit Spinnen und Ameisenbären im Dschungel löste bei ihr weniger Beklemmung aus als der Gedanke an einen geschlossenen Raum, in dem sich neben ihr
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