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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fand gerade ein vom Publikum lautstark unterstützter Weltrekordversuch im Dominosteine-Umwerfen statt. Ein Team hatte wochenlang die schwarzen, bisweilen auch bunten Klötzchen aneinander gereiht, daraus Bilder gestaltet, bewegliche Szenerien geschaffen, Feuerwerkskörper integriert und vieles mehr entworfen, um es jetzt innerhalb von Minuten zu zerstören. Der Kommentator sprach Spanisch, was die Angelegenheit für Saraf nur bedingt verständlicher machte.
    Er bemerkte Yeremi und fragte: »Warum tun sie das? Dient ihre Handlung irgendeinem rituellen Zweck?«
    Sie war noch viel zu benommen, um darauf zu antworten. Die fallenden Steine hatten bei Yeremi eine Assoziation ausgelöst. Seit der Weißen Nacht von Jonestown war sie immer wieder von Ereignissen umgerissen worden und hatte sich hernach wieder mühsam auf die Beine gekämpft. Gehörte auch Saraf zu diesem Spiel?
    »Yeremi?«
    Endlich kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Was?«
    »Du bist jetzt meine Lehrmeisterin. Bitte erkläre mir das: Die Stimme aus der Bilderkiste sagt, all diese Männer und Frauen hätten viele Tage und Wochen gebraucht, um die kleinen Ziegel aufzustellen, die sie Dominosteine nennen. Und jetzt kippen sie alle wieder um. Euer Leben ist so kurz, Yeremi! Warum verschwendet ihr so viel Zeit mit derart müßigen Dingen?«
    Sie schaute ratlos zum Fernseher, dann wieder in Sarafs fragende Miene. Über den Sinn oder vielmehr Unsinn derartiger Übungen hatte sie sich noch nie den Kopf zerbrochen. »Vielleicht…« Sie saugte an der Unterlippe. »Möglicherweise wollen diese Menschen etwas tun, was vor ihnen noch niemand geschafft hat.«
    »Millionen von kleinen Ziegelsteinen umkippen? Wozu?«
    »Manch einer möchte gerne beachtet und bewundert werden. Er braucht etwas, woran er sich festhalten kann, weil er sonst wie diese Dominosteine umzufallen droht.«
    »Dann scheint er den Sinn des Lebens nicht begriffen zu haben.«
    »Und woraus soll der, deiner Meinung nach, bestehen?«
    »Ich bin eine Kreatur Gottes. Ich existiere, weil er es will. Nur wenn ich im Einklang mit ihm und seiner Schöpfung lebe, kann ich Glück und Zufriedenheit erlangen.«
    »Wer sagt dir, dass sich diese Menschen nicht auch in Harmonie mit ihrem Gott befinden?« Sie deutete auf den Bildschirm, wo noch immer die Steine purzelten und das Publikum hysterisch jubelte.
    »Niemand. Nur frage ich mich, ob die Lebenszeit nicht ein zu kostbares Gut ist, um sie mit nutzlosen Dingen zu vergeuden.«
    »Für die Männer und Frauen dort ist diese Sache vielleicht alles andere als unwichtig.«
    »Das befürchte ich auch«, sagte Saraf ernst.
    »Du solltest nicht so selbstherrlich über sie urteilen, Saraf.« Sie glaubte mit einem Mal, die Rekordjäger verteidigen zu müssen. »Dein Gott mag diesen Menschen nichts bedeuten. Sie müssen sich mit einem Leben arrangieren, in dem oft andere allzu willkürlich über ihr Geschick bestimmen: gierige Arbeitgeber, die ihnen nach Belieben Lohn und Brot entreißen, korrupte Politiker, denen die verbrieften Menschenrechte nichts, die eigene Macht jedoch alles bedeutet, oder profitsüchtige Unternehmen, die ihre Gesundheit ruinieren. Ist es da verwunderlich, wenn die Menschen sich ausgeliefert fühlen und einen Halt im Leben suchen?«
    »Man glaubt oft ohnmächtig zu sein, ist aber so gut wie nie wehrlos.«
    »Du kennst unsere Welt noch nicht, Saraf.«
    »Das mag stimmen. Aber erkläre mir eines: Ist es in deiner Welt von dauerhaftem Nutzen, nur an den eigenen Vorteil zu denken?«
    »Manchmal habe ich das Gefühl, dieses Lebensprinzip verdrängt alles andere, was uns Menschen jemals von Bedeutung war.«
    »Das klingt trostlos. Dabei braucht jeder das Wasser der Hoffnung, damit Körper und Geist nicht vertrocknen wie ein entwurzelter Baum. Selbst der Silberne Sinn kann ohne sie nicht gedeihen.«
    »Die Einfühlung? Was könnte die Empathie wohl an unserer gefühlskalten Welt ändern! Mir kommt alles so verfahren, so ausweglos vor.«
    »Korrigiere mich bitte, wenn ich mich irre, aber könnte deine Einschätzung etwas damit zu tun haben, wie du deine eigene Lage siehst?«
    Yeremi stand mit offenem Mund da und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Schon wieder hatte Saraf sie kalt erwischt. Zögernd antwortete sie: »Vor langer Zeit schon ist hinter mir eine Tür zugeschlagen, die sich nicht mehr öffnen lässt.«
    »Umkehr bedeutet selten Fortschritt. Warum nicht einfach weitergehen, Yeremi? Ist nicht jeder Ausgang irgendwohin auch ein

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