Der silberne Sinn
Umkehrpunkt der Wellen stehen. Sie hoffte, Saraf würde sich wie das Wasser vor ihr zurückziehen.
Wie schlecht sie ihn doch kannte! Wenige Atemzüge später befand er sich wieder neben ihr; die Arme hingen locker am Körper herab, und sein Blick war auf das Meer gerichtet.
Soll er doch da stehen bleiben, bis ihn die Krebse holen! In Gedanken verwünschte Yeremi ihn und wünschte sich zugleich, sein Vertrauen ebenso reflektieren zu können wie das Meer den noch fast vollen Mond. Nach einer ganzen Weile brach Saraf das Schweigen.
»Manchmal sprechen deine Gefühle zu mir, auch wenn ich sie nicht angetastet habe.«
Nervös zog sie ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach vorn und begann an ihrem Haar herumzuzupfen. »Und… was verraten sie dir?«
»Immer wenn du von Al Leary sprichst, fühle ich eine große Kälte in dir. Ich spüre, dass er dir etwas angetan hat, aber ich weiß nicht, was. Wenn du das Bedürfnis empfindest, darüber zu reden, dann könnte ich dir das Heilige Zuhören schenken. «
Sie zitterte. Eine warme Träne lief unbemerkt ihre Wange hinab und verriet sich erst durch den salzigen Geschmack auf ihrer nervös hervorschnellenden Zunge. Yeremis Mund war geöffnet, sie schöpfte tief Luft, als wolle sie seiner Einladung folgen – aber dann schüttelte sie verzweifelt den Kopf. »Al Leary hat mich vor vielen Jahren auf eine Weise verletzt und gedemütigt, wie ich es selbst meiner ärgsten Feindin nicht wünschen würde. Mehr kann ich dazu nicht sagen, Saraf. Noch nicht! Und vielleicht niemals.«
Am nächsten Morgen blickte Yeremi verdrießlich auf den Wäschekorb mit Hanussens Nachlass neben ihrem Schreibtisch. Bis jetzt hatte sie in den Unterlagen wenig Ergiebiges gefunden, nur obskure Reflektionen über die Natur transzendenter Erfahrungen, vergilbte Zeitungsausschnitte, Notizen zu geplanten Artikeln in der Hanussen-Zeitung sowie geschäftliche und private Korrespondenz, darunter einige Dankesschreiben von Polizeidienststellen, die Hanussen für die hellseherische Unterstützung bei der Aufklärung von Verbrechen lobten. In Yeremis Vorstellung formte sich allmählich ein Bild ihres Urgroßvaters, das wenig schmeichelhaft war. Seine Arroganz hatte bisweilen paranoide Züge angenommen.
Hanussens Größenwahn zeichnete sich schon früh ab. Am 20. Februar 1919 wurden seine »Hypnose-Experimente« in Wien verboten. Forsch ging er zum Gegenangriff über. Um die amtliche Verfügung zu umgehen, nannte er seine Versuche kurzerhand »Wachsuggestion«, was mancher noch als Schelmenstreich ansah. Zwei Tage später lieferte er im Neuen Wiener Journal unter der Schlagzeile »Wie ich arbeite« dann aber eine Kostprobe seiner Überheblichkeit. Yeremi las kopfschüttelnd den Zeitungsausschnitt.
Die Suggestion hat mit der Hypnose so wenig zu tun wie der Seiltänzer mit der Primadonna. Ich darf mir schmeicheln, als Hypnotiseur einen nicht ganz unbekannten Namen in der Welt zu besitzen, und kenne den Unterschied zwischen den beiden Vorgängen sehr genau… Seit wann unterstehen die freien Bürger eines Freistaates einer so rührenden Bevormundung ihrer Nerven? Wenn jemand an sich die Sache ausprobieren lässt, ist dies seine Angelegenheit. Ich habe mindestens mit 10000 Menschen derartige Experimente gemacht.
Vier Jahre später brach dann der »Krieg der Eisenbeißer« aus. Hanussen hatte einen Trick von Siegmund Breitbart kopiert, dem so genannten »Eisenkönig«, der allein durch das Zerbeißen von Ketten viele Bewunderer fand. Aber Hanussen duldete keinen zweiten Star neben sich. Also engagierte er eine neunzehnjährige Probiermamsell namens Martha Kohn und machte sie zur ersten Martha Farra, auch »Eisenkönigin« genannt. Breitbart und sein Impresario Erich Juhn zeigten den Etikettenschwindel an, erhoben sie doch den alleinigen Anspruch auf eherne Monarchentitel. Eine wissenschaftliche Jury fällte hierauf einen Schiedsspruch. Die berufliche Vorgängerin von Yeremis Urgroßmutter wurde zur »Eisenprinzessin« degradiert – und Hanussen explodierte. Obwohl er selbst das Publikum mit gestohlenen Tricks irregeführt hatte, bezichtigte er dreist in einem offenen Brief, am 4. Februar 1923 wiederum im Neuen Wiener Journal erschienen, Breitbart des Betruges. Die Schiedskommission erklärte er für inkompetent.
Das Herauskehren der eigenen Gelehrsamkeit, Erfahrung und Genialität, um den Gegner mundtot zu machen, war Yeremi an sich vertraut. Auch so genannte Wissenschaftler bedienten sich dieser bewährten
Weitere Kostenlose Bücher