Der silberne Sinn
spreche, wenn sie ihre Sprachkenntnisse in den Dienst meiner Ausbildung stelle. Ich sagte: ›Nichts!‹«
»Saraf, ich möchte Molly vor jeglichen Gefühlsspielereien bewahren. Du hast deine empathische Gabe doch bei ihr eingesetzt, oder etwa nicht?«
»Du meinst den Silbernen Sinn?« Saraf wiegte den Kopf hin und her. »Ich glaube, du hast immer noch nicht verstanden, wie der Fühlsinn wirkt, Jerry. Ich verzaubere die Menschen nicht, sondern zum großen Teil beobachte ich sie nur und höre ihnen zu. Wann hast du zum letzten Mal deiner Mutter zugehört?«
»Vor zwei Stunden. Aber du lenkst ab, Saraf! Hier geht es um Molly, nicht um mich.«
»Bist du sicher?« Saraf ließ einige zähe Sekunden verstreichen, bevor er hinzufügte: »Molly braucht jemanden, dem sie ihre Gedanken und Empfindungen anvertrauen kann, und wer wäre dazu besser geeignet als ihre Tochter?«
»Willst du etwa behaupten, ich würde meine Mutter vernachlässigen?«
»Das liegt mir fern, Jerry. Ich weiß, wie du für sie empfindest. Aber das einfühlende Zuhören bedeutet weit mehr, als respektvoll zu schweigen, wenn der andere spricht. Es erfordert höchste Aufmerksamkeit, denn allzu leicht lässt man sich durch übereilte Schlussfolgerungen und tief sitzende Vorurteile ablenken. Damit der Fühlsinn sich entfalten kann, muss man seine inneren Stimmen zum Schweigen bringen und darüber hinaus nicht nur auf Worte, sondern auch auf Gesten, die Haltung des Körpers und das Mienenspiel des anderen achten. Wenn es gelingt, eine Seele durch diese Art des ›Sichleihens‹ zu beleben, einen Zustand der Enthüllung und Entdeckung herzustellen, dann sprechen wir Silbernen vom ›heiligen Zuhören‹. Wir betrachten es als einen der größten Dienste, die ein Mensch dem anderen erweisen kann, und ich leiste ihn deiner Mutter, die mich so gastfreundlich aufgenommen hat, sehr gerne. Hältst du es für denkbar, ihr in dieser Hinsicht auch hin und wieder behilflich zu sein?«
Yeremi blickte den dunklen Schemen an, der vor den erhellten Fenstern des Strandhauses aufragte. Was konnte sie Saraf auf diese Frage schon antworten? Unwirsch brummte sie: »Die Gefühle meiner Mutter sind mir so heilig wie die eigenen. Gerade deshalb muss ich uns vor jeder Einflussnahme schützen.«
»Das ist seltsam«, erwiderte Saraf leise. »Als ich dich nach Al Learys Stellung fragte, hast du mir erstaunliche Dinge über Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Nervenärzte erzählt – viele neue Worte, die ich mir trotzdem gut gemerkt habe. Du sagtest, zivilisierte Menschen trügen viel Geld zu solchen Gelehrten, um sich von ihren seelischen Leiden befreien zu lassen. Lehnst du die Einflussnahme derartiger Ärzte ebenfalls ab?«
»Das ist etwas anderes.«
»Den Eindruck habe ich allerdings auch, wenn ich an Al Leary denke. Ich kann deiner Mutter bestimmt besser helfen als alle eure Seelenheiler zusammen.«
»Du darfst die ganze Zunft nicht wegen einiger schwarzer Schafe verteufeln.«
»Ich verstehe. Den weißen Schafen vertraust du also.« Saraf nickte bedächtig. »Und warum?«
Yeremi blickte verwirrt über seine Schulter hinweg zum Haus hinauf. »Weil… Nun… sie haben das eben studiert.«
»Das macht sie natürlich zu besonderen Menschen!« Nicht der Hauch von Ironie lag in Sarafs Stimme, was Yeremi umso mehr irritierte. Einige Atemzüge lang schien er intensiv über die Bedeutung akademischer Ausbildungen nachzusinnen, dann fragte er: »Schöpfen sie ihr Wissen aus Büchern?«
»Und aus der Erfahrung weiser Männer und Frauen.«
»Beides trifft auch auf mich zu.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht, weshalb ich deiner Mutter nicht helfen darf.«
Yeremi stöhnte, trat einen Schritt auf ihn zu und reckte ihm ihr Kinn entgegen. »Dann tu einfach, worum ich dich bitte, Saraf. Meinetwegen lass dich von ihr in die Geheimnisse der englischen Sprache einweihen, aber – bitte! – spiele weder mit ihren noch mit meinen Gefühlen.«
»Das habe ich nicht mehr getan, seit ich dich zum Dach des Waldes führte.«
Dieses Geständnis verwirrte Yeremi nur noch mehr. Warum nur misstraute sie diesem Mann? Zugegeben, er sprach fast nie über die ferne Vergangenheit seines Volkes, aber ansonsten schien er ihr gegenüber nicht den geringsten Argwohn zu hegen. Trotzig fuhr sie herum, und ihr zum Pferdeschwanz gebundenes Haar peitschte sein Gesicht. Mit vor der Brust verschränkten Armen stapfte sie in Richtung Ozean und blieb erst dicht vor dem
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