Der silberne Sinn
alphabetischen Ordnung. Und nun hatte diese Person, die sich Yzanne nannte, doch glatt alles auf den Kopf gestellt! Emma stieß ein hysterisches Lachen aus. Offenbar hatten ihre Rechercheure da ein unscheinbares Detail übersehen. Sie blickte wieder von ihrer Karte auf und röhrte: »Wollen Sie damit andeuten, der Dahingeschiedene sei ein ganz gewöhnlicher Hund gewesen?«
»Ja doch! Was dachten Sie denn?« Mrs Baldwins Lachen klang erheblich natürlicher.
»Ich…« Emma blickte erst Xenia Cadence an, die Yeremi ein Leben lang als Entdeckerin neuer Tonarten auf dem heimischen Flügel in Erinnerung behalten würde, dann den getarnten Silbermann. »Mr Silverman. Haben Sie gewusst, dass Yzannes Depressionen – wie soll ich sagen? – hündischer Natur waren?«
»Hunde sind treue Freunde von Menschen«, antwortete Saraf – zu Yeremis großer Verwunderung – in gebrochenem Englisch. Dann fiel er aber doch in das ihm vertrautere Spanisch zurück. Seine Stimme wurde in der Lautstärke abgesenkt, und ein Simultanübersetzer schaltete sich ein. »Die Vierbeiner begleiten die Menschen schon seit Anbeginn der Zeit. Selbst auf große Reisen über das Meer. Beim Lesen von Scientific American habe ich ein Bild von Laika gesehen, der ersten Weltraumfliegerin, die eine Hündin war. Bei so viel Treue verstehe ich den Schmerz, den Yzanne nach Quentins Tod gefühlt hat. Ihre Trauer bewegte mich tief, deshalb wollte und konnte ich ihr neuen Lebensmut einflößen.«
»Ganz sensationell!«, lobte Emma und brachte ihre Tränenmaschine auf Touren. »Dieses Einfühlungsvermögen! So süß! Und dabei ist Yzanne kein Einzelfall. Sie haben auch Xenia aus ihrer Lebenskrise geholfen. Wie schaffen Sie das nur, Mr Silverman?«
»Fühlsinn«, antwortete Saraf langsam auf Englisch. »Durch die Fähigkeit, sich in die Seele anderer Menschen einzufühlen.«
»Einfühlung ist also das Rezept? Das klingt so schlicht und ist doch so machtvoll, wenn sie von Männern Ihresgleichen… gefühlt wird. Ach!…« Emmas Handrücken sank schwer gegen die Stirn, und sie vergoss seufzend eine weitere Träne. »Ich wünschte, mir würde so etwas passieren.«
»Dazu müsstest du zuerst deine Maske ablegen, Emma. Ein Chamäleon findet wenig Mitgefühl, weil man es zu leicht übersieht.«
»Chamäleon!?«, quäkte die Moderatorin in wenig moderatem Ton. »Wie kommen Sie dazu, mich ein Chamäleon zu nennen?«
»Bist du das etwa nicht? Die Menschen sollen denken, du weinst, dabei lachst du sie in deinem Herzen aus. Du bittest freundlich deine Gäste darum, ihre Seelen nach außen zu kehren, aber nicht helfen willst du ihnen, sondern sie zum Gespött der Zuschauer machen. Ich habe mir einige deiner Gespräche angesehen. Im Namen der Wahrheit hetzt du deine Besucher gegeneinander auf, lässt sie die übelsten Abartigkeiten verbreiten, damit die Menschen an den Flimmerkisten sagen können: ›Lasst uns weiter unsere Partner betrügen, unsere Eltern schlagen und unsere Freunde belügen, denn – schaut nur diesen Abschaum da bei Emma! – so übel sind wir doch gar nicht.‹ Wer so täuschen kann, der ist für mich ein wahrer Meister. Deshalb nenne ich dich ein Chamäleon und nicht – wie du wohl befürchtet hast –, weil du mir als Frau nicht gefällst, zumal du doch ein Mann bist.«
»Aus!«, schrie Emma und fuchtelte mit den Armen vor der Kamera herum. Weil die Regie nicht rechtzeitig reagierte, täuschte sie eine Ohnmacht vor.
Yeremi fuhr wutschnaubend nach Hause. Sie würde ihre Mutter vierteilen und Saraf zum Sezieren freigeben. Was sie da im Fernsehen tatenlos hatte mitverfolgen müssen, war mehr als eine Dummheit. Katastrophe, nein, Super-GAU – diese Wörter vermittelten eine ungefähre Ahnung von den wahren Ausmaßen dieser »Unterhaltungssendung«. Der Mann von Judith O’Conell, einer weiteren Bridgedame, kontrollierte den örtlichen Fernsehsender. Vermutlich war sie die Drahtzieherin hinter diesem aberwitzigen Auftritt. Wie hatte Molly das nur zulassen können!?
Als Yeremi nach Art eines Überfallkommandos in das Strandhaus stürmte, war es finster und leer. Von der Diele aus rief sie trotzdem nach Molly. Vergeblich. Ein zweiter Versuch mit dem Namen Isabellas, der mexikanischen Haushälterin, blieb ebenfalls ohne Resonanz. Eigentlich logisch, machte Yeremi sich klar. Isabella ist vermutlich längst in Monterey bei ihrer sechsköpfigen Familie. Molly und Saraf dürften noch im Studio sein – die Talkshow ist ja live ausgestrahlt
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