Der silberne Sinn
Besitz zu verteidigen, notfalls mit Waffengewalt. In dem Strandhaus gebe es einige Schrotflinten, die prima in Schuss seien. Es wäre doch bedauerlich, wenn das Fest des Friedens auf derart martialische Weise Schlagzeilen machte, fügte sie noch hinzu. Allmählich kehrte vor der Haustür Ruhe ein.
Nach dem Frühstück verließ Yeremi in einem roten Trainingsanzug auf der Küstenseite das Haus, um sich unauffällig über den aktuellen Zustand der Belagerung zu informieren. Dabei bemerkte sie einen Angler, der auf seinem Klappstuhl am Strand saß, neben sich eine große braune Plastikbox, und auf das Meer hinausstarrte. Der Mann trug einen blauen Hut mit umlaufender Krempe, unter dem dunkelbraune Strähnen hervorlugten, eine dünne Jacke gegen den Seewind und eine weite graue Baumwollhose. Sein Gesicht war hinter einem buschigen dunklen Oberlippenbart und einer eng anliegenden schwarzen Sonnenbrille nahezu verborgen. Die Brille erinnerte entfernt an eine Zorromaske. Der Angler war schwer gebaut und offenbar nicht sehr groß. Yeremi kannte die meisten der Jogger, Sonnenanbeter und anderen Nutzer dieses wenig frequentierten Strandabschnittes, aber diesen Mann hatte sie hier noch nie gesehen. Vielleicht gehörte er zu der Medienmeute, die sich nach ihrer unmissverständlichen Drohung bis zur Grenze des Bellman-Anwesens zurückgezogen hatte.
Zunächst lief sie zwei Meilen an der Küste nach Süden und dann in einem weiten Bogen zum Strandhaus zurück. Aus der Ferne sah sie die Journaille wie eine Meute gefräßiger Raubtiere vor der Auffahrt lauern. Dort, auf öffentlichem Grund, konnte Yeremi wenig gegen sie tun. Vermutlich würde die Belagerung ohnehin bald zusammenbrechen. Sobald man keine Sensationen mehr witterte, musste das Bedürfnis, Weihnachten am heimischen Herd oder zumindest in der warmen Redaktion zu feiern, übermächtig werden.
Nach der Rückkehr machte Yeremi sich sogleich auf die Suche nach Saraf. Sie fand ihn in seinem privaten Wohnzimmer über einer Ausgabe von National Geographic.
»Da draußen sitzt ein Mann am Strand, Saraf.«
»Ich weiß.«
»Seit wann ist er da?«
»Schon seit mehreren Tagen.«
»Aber… dann kann es kein Reporter sein. Die jagen dich erst seit gestern.«
»Judith O’Conell kennt mich seit Dienstag, und sie hat wohl noch am selben Abend ihrem Mann von mir erzählt.«
»Stimmt! Ich habe nicht an die Effektivität von Mollys Klatschtantenverein gedacht. Aber irgendwie befriedigt mich diese Erklärung nicht. Wer interessiert sich schon im Vorfeld einer drittklassigen Talkshow für einen Gast, der weder prominent noch sonst irgendwie auffällig geworden ist? Könnte der Mann am Strand doch nur ein normaler Angler sein, der seine Ferien hier verbringt?«
Der Silbermann legte das Magazin zur Seite und schüttelte den Kopf. »Der Fremde jagt nicht im Wasser. Sein Revier liegt hinter ihm.«
Saraf hatte versprochen, sich um den Angler zu kümmern, was Yeremi nicht ohne Sorge zur Kenntnis nahm. Sie machte ihrem ausländischen Gast klar, wie unangenehm die amerikanischen Gesetzeshüter werden konnten, wenn man einem Mitmenschen giftige Pfeile in den Körper schoss, ihn mit Messern bearbeitete oder andere Überredungstechniken anwandte.
»Gut, zu wissen«, bedankte sich Saraf. »Nach einer Woche Fernsehen dachte ich, in deinem Land gilt allein das Recht des Stärkeren.«
Yeremi sah ihn entsetzt an.
Saraf grinste. »Ich habe das nicht ernst gemeint. Wir Silbernen verabscheuen Gewalt.«
Die Belagerung durch den Fremden hielt auch in den kommenden Stunden an. Am Nachmittag klarte der Himmel auf, und gegen Abend versank die Sonne blutrot im Meer. Ab und zu hatte sich der Angler aus einer Thermoskanne mit heißer Flüssigkeit versorgt oder von einem Sandwich abgebissen, aber ansonsten bewegte er sich so gut wie gar nicht.
»Er muss nicht mal pinkeln gehen«, nörgelte Yeremi. Sie stand neben Saraf, blickte ab und zu in seine ausdruckslose Miene, dann wieder aus dem Fenster.
»Man kann lernen, seinen Körper zu beherrschen«, erwiderte der Silbermann gleichmütig.
»Ja, wenn man zu irgendeiner Spezialeinheit gehört.«
Weil Saraf nicht antwortete, wandte ihm Yeremi ihr Gesicht zu. Sie konnte sehen, ja, regelrecht fühlen, wie er sich auf die reglose Gestalt da draußen konzentrierte. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Irgendetwas passierte da, das sie nicht begriff.
Als sie wieder zu dem Angler hinabsah, bemerkte sie, wie dessen Körper plötzlich erstarrte. Man
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