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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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besonders eindrucksvoll: Selbst sitzend ein Hüne, breitschultrig wie ein olympischer Hammerwerfer und mit der Haltung eines Monarchen, machte er sogar Emma die Aufmerksamkeit des Publikums abspenstig. Eine schwarze Ray-Ban-Sonnenbrille verlieh ihm eine geheimnisvolle Aura, die Yeremi genauer hinsehen ließ. Da fiel ihr Blick auf das bunte Perlenhalsband des Talkgastes. Ein schwerer goldener Anhänger prangte daran.
    »Können Sie das bitte lauter stellen?«, rief sie in einem fordernden Ton, dem sich der entnervte Kassierer nicht zu entziehen vermochte. Er tippte auf die Fernbedienung. Alle Kunden starrten auf die Mattscheibe.
    »… unsere letzten Gäste von einer spirituellen Erfahrung berichten, die wie kaum eine andere den Geist dieser Jahreszeit widerspiegelt«, trötete Emma. Ihre Stimme erinnerte an ein Tenorsaxophon. Sie deutete auf den Gast mit der Sonnenbrille. Saraf trug eine schwarze, schulterlange Perücke, die einen interessanten Gegensatz zu der blonden Brust- und Beinbehaarung bildete. Der Anblick riss Yeremi fast den Boden unter den Füßen weg.
    »Zunächst möchte ich Xenia Cadence und Yzanne Baldwin begrüßen, die Ihren Seelenfrieden dank der erstaunlichen Einfühlsamkeit dieses Prachtburschen zurückgewonnen haben. Nun aber…« – Emma deutete großspurig auf den falschen man in black und las ein letztes Mal den Namen ihres Besuchers von einer rosafarbenen Karte in ihrer Hand ab – »heißen Sie mit mir herzlich den Spezialgast des heutigen Nachmittags willkommen, den sensationellen Mr Silvermaaaan.« Emma hatte Sarafs Tarnnamen extrem in die Länge gezogen, als ginge es darum, den Favoriten eines Weltmeisterschaftsboxkampfes anzukündigen. Saraf Argyr wirkte ein wenig angespannt. Die Kamera ignorierend, konzentrierte er sich ganz auf seine Gesprächspartnerin.
    »Yzanne«, richtete Emma nun das Wort an den Gast zu Sarafs Linken, einer Mittfünfzigerin aus Mollys Damenrunde, die Yeremi seit Jugendtagen vor allem wegen ihrer unverdaulichen Cremetorten kannte. »Sie verdanken Mr Silverman das Ende schlafloser Nächte voll düsterster Albträume.«
    »Xenia hat auch wenig geschlafen«, korrigierte Mrs Baldwin.
    »Wie wir gleich noch hören werden. Doch zunächst zu Ihnen, Yzanne. Sie haben vor einiger Zeit einen schweren Verlust hinnehmen müssen. Es fehlte nicht viel, und sie hätten im Freitod Erlösung gesucht. Bitte erzählen Sie uns mehr über diese ganz und gar furchtbare Zeit.«
    »Verlust ist gar kein Ausdruck, Emma!« Mrs Baldwin seufzte spektakulär. »Als Quentin von uns ging, begann eine Nacht anzubrechen, die niemals mehr zu enden drohte. Ich war verzweifelt, aß, nein, fraß Dutzende von Cremetorten, was mir nicht besonders bekommen ist. Wenn ich mich nicht übergeben musste, weinte ich, etwa zehn Tage lang…«
    »Und was geschah dann?«
    »Trauer hat sich in Trost verwandelt. Ich kann es gar nicht beschreiben. Als hätte er an einer Strippe gezogen und eine neue Sonne aufgehen lassen.«
    »Silverman? Reden Sie von dem gut aussehenden Mann da an Ihrer Seite?«
    »Richtig. Sara… Äh, ich meine, Sarabande tanzend entkam ich, dank Mr Silvermans Hilfe, den Fesseln der Schwermut.«
    »Quentin ist also abgehakt?«
    »Persönlichkeiten wie Quentin hakt man nicht ab«, erwiderte Mrs Baldwin pikiert. »Nie habe ich einen Streuner so geliebt wie ihn. Doch Mr Silverman hat mir gezeigt, dass Trauer ein Ort in unserem Herzen ist, an dem wir rasten, aber niemals wohnen dürfen.«
    »Oh, das haben Sie schön gesagt, Yzanne!« Emma drückte sich eine Träne aus dem Auge. »Hat Quentin wenigstens… Ich wollte sagen, hat er sehr gelitten?«
    »Nun, das kann man wohl sagen, Emma! Er war zuletzt auf beiden Augen blind. Wenn ich ihm das Fleisch nicht durchgedreht habe, hat er es nicht angerührt. Bei jeder Bewegung hat er gejapst. Sein Mäuschen ließ er links liegen, nicht mal die Pussy von nebenan hat ihn noch interessiert.«
    »Man könnte glauben, ihr Quentin war ein ziemlicher Schwerenöter, Yzanne!« Emma lachte im Rausch erotischer Fantasien.
    »Lange nicht so schlimm, wie Sie denken, meine Liebe. Er war ein ganz normaler Köter.«
    »Köter?«, wiederholte Emma mit schriller Stimme. Irritiert blickte sie auf den rosafarbenen Karteikartenstapel in ihrer Hand, der ihr gewöhnlich verriet, mit wem sie wann über welche Skandälchen zu plaudern hatte. In ihrer Sendung überließ sie nichts dem Zufall. Alles war genau geplant. Gags und Tränen folgten einer strengen Dramaturgie, einer fast

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