Der silberne Sinn
worden. Vermutlich machen sie gerade Wiederbelebungsversuche bei Emma Chamäleon.
Yeremi schüttelte fassungslos den Kopf. Die Zeitungen würden das Ereignis genüsslich zerpflücken und es den Lesern fein säuberlich häppchenweise servieren – jeden Tag eine neue Enthüllung.
Wie sich schnell zeigte, konzentrierte sich das Medieninteresse nicht allein auf Emma, das Chamäleon. Es wurde auch zur Hatz auf Mr Silverman geblasen. The Monterey County Herold überstürzte sich fast, um ein »erstes Interview zu der sensationellen Show zu bekommen«: Nur wenige Minuten nach Yeremis Heimkehr bettelte ein Vertreter der Lokalredaktion des Blattes am Telefon »um ein oder zwei Worte mit dem mirakulösen Witwentröster«.
»Hier gibt es keinen Wundermann, versuchen Sie es woanders!«, fauchte sie in die Sprechmuschel und legte auf. Gleich darauf klingelte es erneut. Diesmal war KTEE dran, der lokale Rundfunksender. Nein, Witwentröster seien hier nicht zu sprechen, knurrte Yeremi, man möge es doch anderweitig probieren. Als dann Coast Weekly anrief, ein Blatt aus dem benachbarten Seaside, wiederholte sie süßlich säuselnd ihr Mantra – kein Wundermann, falsch verbunden – und zog das Kabel aus der Wand.
Kurz vor zweiundzwanzig Uhr trafen der neue Fernsehstar und seine Agentin ein. Gut gelaunt berichteten sie, nun wieder in Spanisch, von »Sarafs großem Tag«. O’Conell habe sie noch zum Essen eingeladen, weil er sich von Mr Silvermans Auftritt so viel Publicity verspreche, wie er »in einem ganzen Leben nicht würde bezahlen können«. Eine eigene Sendung habe Saraf vorerst abgelehnt.
Yeremi nickte lahm. Seltsamerweise hatte sich ihr Ärger zum größten Teil verflüchtigt. Natürlich machte sie ihrer Mutter Vorwürfe, aber vom Vierteilen war keine Rede mehr. Auch die Idee, Saraf zu sezieren, ließ sie fallen. Geduldig hörte sie sich die Rechtfertigungen des seltsamen Gespanns an. Molly bestand darauf, ihr Versprechen in Bezug auf CNN gehalten zu haben. Aber als ihre Freundinnen nach dem Kaffeekränzchen am Mittwoch wiedergekommen waren, weitere seelenwunde Damen mitgebracht und alle hingebungsvoll Sarafs tröstlichen Worten gelauscht hatten – da war die Idee von der Talkshow geboren worden.
Er habe dem Vorschlag von Judith O’Conell zugestimmt, gestand Saraf, weil die Gesprächsrunden im Fernsehen seine Neugier geweckt hätten. Sie seien ihm wie »Grüfte der Empathie« erschienen, voller Schuldzuweisungen und Attacken. Er habe die Sendungen zunächst für das absurde Theater einer Hand voll schlechter Schauspieler gehalten, sei dann aber doch überrascht gewesen, sie als inszenierte Geschmacklosigkeit mit echten Menschen zu entlarven.
»Die moderne Gesellschaft dürfte noch viele Überraschungen für dich parat haben«, sagte Yeremi müde.
»Das ist wohl wahr! Jetzt, wo ich deine Welt kennen lerne, vermisse ich die anregenden Stunden in unserer Halle der Begegnungen. Wir haben einander Geschichten erzählt, uns getröstet, miteinander gebetet, gesungen, kunstvolle Gegenstände angefertigt, die Erkenntnisse unserer Forschungen ausgetauscht… Das Leben war so reich! Ihr überrascht mich, weil ihr den Sinn für das wahrhaft Kostbare verkümmern lasst. All euer Streben scheint sich auf die Befriedigung von Sinnenfreuden zu beschränken, und dabei merkt ihr nicht einmal, welchen Verlust ihr dadurch erleidet.«
»Ich finde, du übertreibst.«
Saraf nickte einsichtig. »Das mag stimmen. Ich kann nur sagen, was ich in eurem Fernsehen gehört und in den Druckwerken gelesen habe. Molly meinte, viele deiner Zeitgenossen hielten diese Welt künstlicher Bilder für die einzig wirkliche. Wenn da nur die seltsamen Plauderrunden von Männern wären, die sich mit Frauennamen schmücken. Aber da ist so viel anderes…! Warum gebt ihr euch einem solchen Rausch der Gewalt hin? Zu jeder Tageszeit kann man lernen, wie Menschen zu verstümmeln und zu töten sind. Dann wieder gibt es diese albernen Spiele, bei denen haufenweise Geld verschenkt wird. Wenn ich ein Tier essen will, muss ich mich auf die Jagd begeben, ihr aber redet euch ständig ein, ihr könntet ohne Anstrengung reich werden. Du musst mir unbedingt erklären, wie sich eure Gesellschaft auf diese Weise vervollkommnen kann. Und stell dir vor: Ich habe sogar gesehen, wie Menschen beliebigen Geschlechts in ihrer Wollust zueinander entbrannten, auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Wie Tiere sind sie übereinander hergefallen, und alles wird schamlos in
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