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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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eure Häuser gespien, damit ihr euch daran ergötzen könnt. Wenn das Fernsehen eure Wirklichkeit ist, dann muss euer Leben arm sein.«
    »Die Medienmacher halten ihr Programm für einfallsreich«, brummte Yeremi. »Wie soll ich dir das erklären? Mit Begriffen wie Reizüberflutung, Hemmschwelle und Marktanteil kannst du vermutlich nicht viel anfangen.«
    »Würde ich euren Mangel an Werten verstehen, wenn du sie mir erklärst?«
    Yeremi blickte ihm nachdenklich in die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Vermutlich nicht. Aber sei beruhigt: Ich begreife selbst nicht genau, was um mich herum vorgeht. Niemand tut das. Aber eines weiß ich gewiss: Meine Welt ist nicht allein die des Glamours und der Hochglanzmagazine. Es leben auch in unserer Zivilisation Menschen, die das Schöne, das wahrhaft Wertvolle lieben und es bewahren möchten.«
    »Davon bin ich überzeugt, Jerry. Schließlich gibt es ja dich.«
    Molly seufzte. »Das hast du nett gesagt, Saraf! Ich glaube, ich lasse euch jetzt mal allein. Gute Nacht.«
    »Schlaf gut, Mama«, sagte Yeremi. »Und eines noch!«
    »Ja?«
    »Als ich nach Hause kam, liefen bereits die Telefone heiß, weil alle Welt Saraf sprechen wollte, aber – damit das klar ist – wir lassen die Medienmeute ins Leere laufen. Ab jetzt herrscht Funkstille. Keine Fernsehauftritte mehr. Keine Rundfunkinterviews. Keine Schlagzeilen in der Presse. Saraf ist von nun an unsichtbar, nicht existent. Haben wir uns verstanden?«
    »Aber ja doch, Liebes. Er hat so viel Gutes getan in dieser Woche. Da wollte ich nur…«
    »Ich habe heute gesehen, was du wolltest, Mama. Aber durch diesen kindischen Auftritt hast du Saraf in große Gefahr gebracht. Daran ändert auch seine alberne Hippiemaskerade nichts. Damit muss Schluss sein.«
    Molly nickte. Dann lächelte sie Saraf zu, strich mit ihrer Hand liebevoll über die seine und entschwebte in die Nacht.
    »Du darfst ihr nicht böse sein, Jerry. Sie hat es nur gut gemeint, und ich bin freiwillig in dieses Fernsehhaus gegangen.«
    In ihrem Blick lag etwas Kristallines von diamantener Härte.
    »Was ich zu Molly gesagt habe, gilt auch für dich, Saraf: Keine weiteren Eskapaden!«
    »Ich gebe dir mein Wort, wenn du mir versprichst, mich nicht länger einzusperren.«
    Sie seufzte. »Ich werde mir etwas einfallen lassen. Doch jetzt erkläre mir bitte eines: Warum kannst du mit einem Mal so gut Englisch sprechen?«
    »Molly hat es mir beigebracht.«
    »In anderthalb Wochen?«
    »Nicht ganz. Ich habe dich schon wesentlich länger begleitet und fast jeden Tag eure Sprache und die passenden Übersetzungen gehört.«
    »Aber…« Yeremi schüttelte ungläubig den Kopf. »Du tust so, als sei das völlig ausreichend. Ich kenne niemanden, der so schnell eine neue Sprache lernen kann.«
    Saraf machte ein verwundertes Gesicht. »Du kennst doch mich.«
    »Willst du mir tatsächlich weismachen, du hättest nie zuvor ein einziges Wort Englisch gehört?« Mit strengem Blick forderte Yeremi die Wahrheit.
    »So gut wie nie«, antwortete Saraf ausweichend.
    »Was heißt das?«
    »Ich kann es dir nicht sagen.«
    Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Also sitzt du wieder in deinem Pavillon des Schweigens.«
    »Wie bitte?«
    »Ach, nichts. Vermutlich willst du mir auch nicht erklären, woher deine Kenntnisse unserer lateinischen Schrift stammen. Streite es nicht ab, du hast es heute selbst zugegeben, zweimal sogar.«
    »Eure paar Buchstaben sind nicht besonders schwer zu erlernen.«
    Yeremi nickte. »Du drückst dich schon wieder. Weil du mir nicht traust.«
    Sie drehte sich um und lief ohne Gutenachtgruß in ihr Zimmer.
    Als Yeremi am nächsten Morgen die Zeitung ins Haus holen wollte, wurde sie von einem Blitzlichtgewitter überrascht. Mindestens zwei Dutzend Presseleute umlagerten den Eingang des Strandhauses. Silverman war in aller Munde. Einstimmig verlangten die Berichterstatter nach dem Wundermann, wollten das Geheimnis des einfühlenden Witwentrösters gelüftet wissen. Yzanne Baldwin wurde nur am Rande erwähnt. Sie war glücklich verheiratet und hatte lediglich um einen Hund namens Quentin getrauert. Wen interessierte das schon?
    Oder kannten die Reporter bereits die Geschichte der echten Witwe, Molly Bellman, und ihres neuen Schülers?
    Yeremi wiederholte ihr Mantra und wies die Fragesteller darauf hin, dass sie sich auf Privatgrund befanden. Freundlich erklärte sie, die Verfassung der Vereinigten Staaten räume jedem Bürger das Recht ein, den eigenen

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