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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gehört zu haben.
    Eilig stellte sie das Tablett auf den Tisch und umrundete das Sofa, damit sie ihm über die Schulter schauen konnte. Ihre herabfallenden Haare streiften sein Gesicht, doch selbst darauf reagierte er nicht.
    Die aufgeschlagene Seite der Zeitschrift zeigte eine Person in einem gelben bakteriologischen Schutzanzug. Der Bildunterschrift zufolge untersuchte sie Briefumschläge, in denen Milzbranderreger vermutet wurden. Yeremi ahnte, warum Saraf so erschüttert auf den Anblick reagierte.
    Er flüsterte: »Das ist einer von ihnen. So habe ich sie in unseren Höhlen gesehen, die gelben Geister.«

 
    DÜSTERE ERINNERUNGEN
     
     
     
    Pacific Grove (Kalifornien, USA)
    26. Dezember 2005
    9.11 Uhr
     
    Der Angler verbrachte Weihnachten am Strand. Yeremi war am Sonntagmorgen früh aufgestanden, weil ihr Sarafs Entdeckung keine Ruhe gelassen hatte. Als sie im Internet einige Nachforschungen anstellen wollte, sah sie den Fremden kommen. Erst bei Einbruch der Dunkelheit verschwand er wieder. Man hätte glauben können, er verdiene seinen Lebensunterhalt mit seiner »Tätigkeit« am Meeresufer, so regelmäßig ging er ihr nach.
    Auch am Montag saß er wieder auf dem Klappstuhl und klammerte sich an sein Jagdgerät. Yeremi grübelte über den Sinn der Belagerung nach. Wenn es dem hinter Bart und Sonnenbrille Vermummten tatsächlich um eine Beschattung des Strandhauses ging, warum räumte er dann nachts das Feld? Täte er es nicht, würde es auffallen, hatte Molly als Erklärung vorgeschlagen. Man merkte, dass sie keine große Erfahrung mit konspirativen Ermittlungen hatte. Sarafs Kommentar mochte der Wahrheit schon näher kommen. Dem Fremden gehe es nicht in erster Linie um die Entdeckung des Silbermannes, behauptete er, sondern um Yeremis Gefühle.
    Kurz nach dem Frühstück unternahm sie ihren Morgenlauf. Wenn dieser Angler tatsächlich glaubte, er könne sie einschüchtern, dann wollte sie ihm zeigen, wie wenig beeindruckt sie davon war. Kurz nach dem Aufstehen hatte Carl angerufen und seine Ankunft für die Mittagszeit angekündigt; bis dahin würde sie den lästigen Belagerer vielleicht vergrault haben.
    Als sie nach einer Sechsmeilenstrecke wieder zurückkehrte, saß er, wie erwartet, immer noch da. Yeremi lief zu dem Mann hin und blieb auf der Stelle tretend, leicht versetzt, vor ihm stehen. Erst jetzt, aus der Nähe, sah sie die Pockennarben auf seiner breiten Nase und den vollen Wangen. Wie die Gipsplastik seiner selbst starrte er reglos an ihr vorbei auf den Pazifik. Ein kurzer Blick in die Plastikschale neben seinem Stuhl verriet Yeremi die Erfolglosigkeit seiner bisherigen Bemühungen – nicht das winzigste Fischlein lag darin.
    »Beißen heute wohl nicht besonders«, sagte sie, ohne das Tänzeln zu unterbrechen.
    »Hmm«, brummte der Mittvierziger.
    »Vielleicht haben Sie woanders mehr Glück.«
    Der Angler antwortete nicht.
    »Um diese Jahreszeit ist die Spanish Bay unberechenbar. Alte Legenden berichten von Fischern, die beim Netzeflicken am Strand plötzlich eine unerklärliche Angst in sich aufsteigen fühlten. Einige sind glücklicherweise geflohen, andere hat das Monster ins Meer gezogen.« Yeremi legte Dramatik in ihre Stimme und empfand sogar die Furcht der Seeleute höchst realistisch nach. Der Erfolg ihrer schauspielerischen Einlage überraschte sie.
    Das schwere Haupt des Anglers ruckte so heftig herum, dass ihm fast die schwarze Sonnenbrille von der Nase gerutscht wäre. Für einen Moment sah Yeremi bestürzt aufgerissene dunkle Augen unter einem Paar auffallend buschiger Brauen, die außen fast wie ein Schnurrbart gezwirbelt waren. Dem Aussehen nach musste der Mann Mexikaner sein. Und dann – sie erschrak – entdeckte sie die zwei kleinen, farbig leuchtenden Abbilder des Bellman-Hauses auf der Innenseite der Brillengläser. Hastig schob der Mann sein Observationsinstrument in die ordnungsgemäße Position zurück und verfiel erneut in regloses Starren.
    Zwei, drei überstürzte Herzschläge lang kämpfte Yeremi um Fassung. Sie schielte zu dem Anglerkasten herab, in dem eine auf das Strandhaus gerichtete Kamera versteckt sein musste. Wie konnte sie den Spion nur vertreiben?
    Unter Aufbietung ihrer ganzen Beherrschung täuschte sie ein unterdrücktes Lachen vor und sagte: »Nichts für ungut, ist nur Seemannsgarn gewesen. Übrigens, beim Golfclub, ein Stückchen weiter unten an der Bucht, gibt es ein hervorragendes Restaurant. Die haben sogar Fisch. Schönen Tag noch. «
    Sie deutete

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