Der silberne Sinn
hätte glauben können, er habe soeben auf dem Meer das Ungeheuer von Loch Ness gesichtet. Obwohl er sich nicht bewegte, verriet seine Haltung doch lähmende Angst. Er musste eine Gefahr wittern, die es in Wirklichkeit nicht gab. Nach einer ganzen Weile wandte er sich mit steifem Nacken um.
Das Gefühl, von dem Angler angeblickt zu werden, war vermutlich unbegründet – Sarafs Wohnzimmer lag im Dunkeln –, aber es verursachte Yeremi trotzdem eine Gänsehaut. Unvermittelt raffte der Angler sein Zeug zusammen und flüchtete außer Sichtweite.
»Ich hätte jetzt Lust zu einem Strandspaziergang«, sagte Saraf ruhig.
»Und der Mann da unten?«
»Sei unbesorgt. Heute wird er nicht wiederkommen.«
Im Schutz der Dunkelheit verließen sie auf der Seeseite das Haus. Es war eine milde, sternenklare Nacht. Yeremi trug einen dicken naturfarbenen Pullover aus Schafswolle und Saraf ein zwei Nummern zu kleines Sakko mit Lederknöpfen und Flicken an den Ärmeln, das früher einmal Nils gehört hatte. Nebeneinander liefen sie den Strand entlang, überquerten einige Klippen und rasteten schließlich bei einem rund geschliffenen Felsen, der Yeremi schon oft als Ort der Ruhe und Besinnung gedient hatte.
»Ich danke dir für diesen Spaziergang«, sagte Saraf nach einigen Minuten des Schweigens.
Sie lächelte schwach. »Schon gut. Ich wollte auch nicht ewig eingesperrt sein.«
Er lehnte sich auf dem Felsen zurück, um zum Himmel emporzublicken. Als er sich dabei abstützen wollte, berührte er leicht Yeremis kleinen Finger. Wie unter einem elektrischen Schlag zuckte sie zusammen.
Forschend blickte er in ihr Gesicht. »Wovor fürchtest du dich, Jerry?«
Sie konnte sich seinen suchenden Augen einfach nicht entziehen, fühlte sich seltsam schwerelos. Dieser Moment unter den Sternen, an dem ihr so vertrauten Ort, war zu außergewöhnlich, um ihn mit Barschheit zu entweihen. Yeremi versuchte erst gar nicht, ihre Ängstlichkeit abzustreiten. Tief in ihrem Innern war sie ihm sogar dankbar. Er hatte endlich mit Namen genannt, was sie sich selbst nie eingestehen mochte. Eher lahm wehrte sie seinen Vorstoß in ihre Privatsphäre ab.
»Du willst mir helfen – das ist lieb gemeint, Saraf –, aber ich brauche Zeit, um mit mir ins Reine zu kommen. Diesen Weg kann ich nur alleine gehen.«
»Manchmal kommt man erst dann voran, wenn man sich jemandem anvertraut.«
Yeremi bemerkte seinen bekümmerten Ton. Es war, als wolle er sich diese Lebensweisheit selbst bewusst machen. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Zuerst muss ich mir Klarheit über meine Gefühle verschaffen.«
Sarafs Hand näherte sich Yeremis Gesicht, als wolle er ihre Wange streicheln, aber ehe sie erneut zurückschrecken konnte, ließ er den Arm wieder sinken. Traurig lächelte er. »Ich verstehe dich gut. Wenn jemand seinen Geist zu einer Festung macht, dann kann niemand sie so leicht einnehmen.« Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Wortlos blickte er zu den Sternen auf.
Auch Yeremi schwieg. Sie war Saraf so nah wie lange nicht mehr. Seit jenem verwirrenden Augenblick im Dschungel, als er sie im Mondlicht überrascht hatte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Sie spürte wieder die Wärme, roch den Duft seines Körpers. Doch inzwischen fühlte sie sich an seiner Seite behütet. Könnten sie ewig so sitzen bleiben, würde ihr kein Unheil geschehen. Die Furcht vor dem, was in ihm wohnte, war nur mehr ein kühler Hauch, der ihre Wachsamkeit lebendig hielt.
»Es ist frisch geworden. Was hältst du von einem heißen Tee?«, fragte sie ihn unvermittelt.
»Gerne«, antwortete er und schnellte geschmeidig von dem Felsen hoch. »Du wirst dich wundern, aber gerade verspürte ich Lust darauf.«
Seite an Seite traten sie den Rückweg an. Nach einigen Schritten hakte sich Yeremi zaghaft bei ihm unter und ließ ihn bis zum Strandhaus nicht mehr los.
Während Yeremi den Kräutertee kochte, saß Saraf auf dem Sofa und blätterte in einer vier Jahre alten Ausgabe von Scientific American. Molly hatte sich eilig zurückgezogen, um die beiden allein zu lassen. Mit einem Tablett, auf dem zwei dampfende Tassen standen, kehrte Yeremi in das holzgetäfelte Zimmer zurück. Dabei bemerkte sie, wie Saraf unvermittelt erstarrte. Es war fast eine Wiederholung jener Szene, die sie zuvor bei dem Angler am Strand beobachtet hatte.
»Was ist?«, fragte sie besorgt.
Sarafs Blick hing an einem bunten Foto in dem Wissenschaftsmagazin. Er schien Yeremis Frage nicht
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