Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
einen militärischen Gruß an und stieß im Loslaufen wie aus Versehen den Anglerkasten des wortkargen Mannes um. Darin befand sich kein einziger Köder, nur ein Gewirr aus Kabeln, elektronischen Elementen und Batterien.
    »Was bin ich ungeschickt!«, kicherte sie. Ehe sie sich bücken konnte, hatte der Angler den Kasten wieder zugeklappt und ihn in die alte Position gerückt.
    Yeremi richtete sich drohend vor ihm auf. »Vielleicht sollten Sie sich doch eine andere Stelle suchen, Sportsmann. An diesem Strand sind die Tiere zu schlau, um sich von einem leeren Haken ködern zu lassen.«
     
     
    Während Yeremi noch den unechten Angler musterte, lieferte UPS eine Büchersendung aus Berlin. Der Adressant war Doktor Wilfried Kugel, der philosophierende Physiker mit dem profunden Wissen über Yeremis Urgroßvater. Sie hatte zwar aufgrund der E-Mail vom letzten Freitag mit einem Paket gerechnet, aber über dessen Inhalt nur spekulieren können. Sobald sie das Hanussen-Buch in Händen hielt, zog es sie in seinen Bann.
    Yeremi ließ sich im Wohnzimmer in einen Sessel sinken und war so in ihre Lektüre vertieft, dass Saraf, der ihr gegenübersaß, sie kein einziges Mal zu stören wagte. Beim Überfliegen des dreihundert Seiten starken Werkes gelangte sie bald zu einem Abschnitt, der den Reichstagsbrand von 1933 behandelte. Hier fiel ihr ein seltsames Schwarz-Weiß-Foto auf. Es zeigte anlässlich eines Lokaltermins Marinus van der Lubbe, den niederländischen Maurer, Anarchisten und ehemaligen Kommunisten, der später als Brandstifter zum Tode verurteilt wurde. Er stand auf einer flachen Treppe neben zwei uniformierten Polizeibeamten in Reitstiefeln. Im Hintergrund war eine Säule zu sehen. Van der Lubbe trug eine viel zu große Hose, deren Beine bis auf den Boden reichten, und eine längs gestreifte Sträflingsjacke. Das wirklich Auffällige an der Fotografie war aber die Körperhaltung des Niederländers. Er stand leicht vornüber gebeugt, und sein Kopf hing unnatürlich weit herab, als wolle er damit jeden Moment einem der beiden Polizisten die Brust einrammen. Das war alles andere als eine Büßerpose.
    Yeremi durchforstete den Text. Da behauptete ein SS-Sturmbannführer namens Grosse, Hanussen habe im Februar 1933 vom SA-Führer Helldorf den Auftrag erhalten, van der Lubbe hypnotisch zu behandeln, »um ihn im Sinne der Ausführung der Reichstagsbrandstiftung zu beeinflussen«. Atemlos las sie den weiteren Bericht.
    Da van der Lubbe, wie auch medizinische Sachverständige im Leipziger Prozess bestätigt haben, ein außerordentlich leicht zu beeinflussender Mensch gewesen ist, stellte er für Hanussen ein geradezu glänzendes Medium dar. Bei diesen hypnotischen Sitzungen ist laut Aussage Grosses Graf Helldorf stets zugegen gewesen… Die Hauptarbeit Hanussens soll hierbei darin bestanden haben, in van der Lubbe sein ohnehin schon überreichlich vorhandenes Geltungsbedürfnis noch zu steigern und in ihm das Gefühl zu erzeugen, daß er durch die Brandstiftung eine Tat begehe, auf die die ganze Welt ihre Aufmerksamkeit richten werde…
    Das Buch sank in Yeremis Schoß. Sie sah zu Saraf hinüber, der ihren Blick zwar fragend erwiderte, aber ihre Gedankenkreise nicht zu stören wagte. Mental fühlte sie sich von dem, was sie da gelesen hatte, regelrecht platt gewalzt: Hanussen, hieß es in den Erinnerungen des SS-Sturmbannführers, – ihr eigener Urgroßvater also! – habe in dem Holländer ein Gefühl erzeugt.
    Sie sackte mit dem ganzen Gewicht ihres Oberkörpers gegen die Sessellehne, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und forschte nach Mustern in diesem Gewirr von Informationsfäden, in die sie sich immer mehr zu verstricken schien, anstatt endlich Klarheit zu gewinnen. Gestern erst hatte sie erstaunliche Hinweise im Internet gefunden – offenbar suchten amerikanische Geheimdienste schon seit Jahrzehnten nach einer Möglichkeit, das menschliche Verhalten zu manipulieren –, und jetzt das! Einmal mehr musste Yeremi an jene Nacht im Dschungel denken, als Saraf zu ihr ins Zelt gekommen war. Wenn hier jemand nach den Gefühlen des anderen geforscht hat, dann bist du das gewesen. Diese Worte, wie abwegig sie auch geklungen haben mochten, hatten sich ihrem Gedächtnis eingebrannt. Und nun – der entsetzte Blick des Anglers stand ihr noch vor Augen – musste sie lesen, es habe in ihrer Familie einen Mann gegeben, der die Gefühle anderer Menschen beeinflussen konnte…
    »Geht es dir gut?« Sarafs besorgte Stimme

Weitere Kostenlose Bücher