Der silberne Sinn
befreite Yeremi aus dem Spinnennetz ihrer Gedanken.
Sie hob mühsam den Kopf. »Nein, Saraf. Mir geht es überhaupt nicht gut.«
Carl Bellmans annähernd vierzig Jahre alte Mercedes-Benz-600-Limousine hielt kurz nach zwölf vor dem Strandhaus. An diesem Tag war er selbst gefahren. Der Anlass gebot Diskretion.
Das Wiedersehen mit Saraf verlief zunächst ohne allzu große Herzlichkeit. Carl wirkte irgendwie abwesend. Er nickte dem Silbermann mit versteinerter Miene zu und sagte: »Ich kann nun mal nicht über den eigenen Schatten springen. Geisterbeschwörer und Magier sind mir suspekt.«
Saraf lächelte, nachdem Yeremi die harsche Begrüßung in abgemilderter Form ins Spanische übersetzt hatte. Auf Englisch antwortete er: »Das beruhigt mich, Carl Bellman. Mir geht es nämlich genauso.«
Der bibelfeste Greis war einigermaßen perplex. »Aber Sie sind doch ein Schamane!«
»Die mir Anvertrauten nannten mich ihren Hüter. Mit bösen Geistern habe ich allerdings nichts im Sinn. Ich glaube an sie, das stimmt, aber ich halte jeglichen Versuch, mit ihnen Kontakt aufzunehmen oder von ihnen Hilfe zu erlangen, für ein tödliches Spiel.«
Carl schüttelte den Kopf. »Yeremi hat mir von den Zehn Geboten in Ihrem Heiligtum erzählt. Das hat mich sehr beeindruckt.«
»Die Silbernen empfanden anfangs leider nicht so. Als sie in die Höhlen unter dem Dach des Waldes einzogen, dachte niemand außer ihrem Hüter an die Kraft der Zehn Worte. Man suchte Stabilität und Zusammenhalt in der Tradition der Vorväter. Aus diesem Bestreben heraus wurde auch die Idee zum Bau der drei pyramidenförmigen Hallen geboren.«
»Dann hat also der Anführer sein Volk zum Christentum bekehrt?«
Saraf lächelte. »Nun, es war etwas anders. Er stimmte nach anfänglichem Zögern dem gewaltigen Bauvorhaben zu. Gleichzeitig erzählte er den Seinen von den Dingen, die er jenseits des Atlantik kennen gelernt hatte. Er brachte ihnen die Zehn Gebote näher wie auch die Lehren des größeren Moses, Jesus Christus, aus der Bergpredigt und vieles mehr. Das schlechte Beispiel der Konquistadoren untergrub jedoch seine wohlmeinenden Worte. Jeder Silberne hatte Eltern oder andere Angehörige durch die Träger des Kreuzes verloren, die Ströme von Blut im Namen ihres Gottes vergossen. Diese Christen verdienten ihren Namen nicht, erklärte der Hüter den Seinigen, denn Jesus hat das Evangelium weder mit dem Schwert verkündet noch dazu aufgerufen. Im Übrigen hätten ja auch sie, das Silberne Volk, viele Zeitalter lang als Ratgeber des Guten gewirkt, aber ihr Einfluss auf die Häuptlinge, Könige und anderen Herrscher ihrer Welt immer mehr schwinden sehen, bis er schließlich ganz erlosch. Der Hüter rief ihnen die grauenhaften Menschenopfer ins Gedächtnis. Viel zu selten hatten sie diese zu verhindern vermocht. Konnte es nicht sein, fragte er, dass auch das Feuer Christi von Ignoranz und Selbstsucht erstickt worden war? Lohnte es nicht, die im mosaischen Gesetz und den Evangelien enthaltenen christlichen Grundgedanken, das Gebot der Gottesfurcht und der gegenseitigen Achtung, zu Leitsätzen des Silbernen Volkes zu erheben?«
Carls Augen funkelten vor Erregung. »Das ist ein Mann nach meinem Geschmack! Und wie ging die Sache aus?«
»Sein feuriger Appell fand Befürworter und Gegner. Schließlich entschied der Rat, die Zehn Worte in der Halle des Gebets anzubringen und jedem freizustellen, welchem Gott er dienen wolle. An diesen Grundsatz der Glaubensfreiheit hat sich das Silberne Volk bis zuletzt gehalten.«
Carl nickte. »Das nenne ich ein salomonisches Urteil. Man kann die Wahrheit nicht in die Menschen hineinstopfen, als seien sie Gänse, sie müssen sie schon freiwillig fressen.«
Saraf blickte Hilfe suchend in Yeremis Richtung.
Sie zwinkerte ihm ermutigend zu. »Mein Großvater hat manchmal eine sehr direkte Art, die Dinge auszudrücken. Ich glaube, er fängt an, dich zu mögen.«
Der Patriarch kehrte seine Gefühle nicht oft nach außen. Aber nun lächelte er und sagte, man müsse jedem Menschen eine Chance geben. Dann fügte er hinzu: »Sie sprechen neuerdings Englisch?«
»Seit letzter Woche«, antwortete Saraf.
Carl musterte den Silbermann argwöhnisch. »Das ist von Vorteil! Aber wie…?«
»Mein Magen knurrt«, sagte Yeremi schnell. Das Ablenkungsmanöver funktionierte.
Carls Gesicht erhellte sich. »Es riecht auch schon so verführerisch. Ich schlage vor, wir sorgen erst einmal für eine solide Grundlage. Der Tag wird noch lang
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