Der silberne Sinn
genug.«
Mollys Perle Isabella hatte Gänsebrust, Rosenkohl und Kartoffeln für Carl gekocht. Alles schwamm in einer dunklen, kräftigen Soße. Mindestens so sehr wie deutsche Automobile liebte er die Küche aus dem Land seiner Vorfahren. Die kulinarischen Freuden machten auch die letzten Vorbehalte gegen den Silbermann schnell vergessen, und die anfangs eher gedrückte Stimmung besserte sich merklich.
Nach dem Essen lud ein zufriedener Patriarch seine Enkelin zu einem Strandspaziergang ein: Er wolle ein wenig mit ihr plaudern. Sie hakte sich bei ihm unter, wie sie es vor kurzem erst bei Saraf getan hatte. Der Anglerplatz vor dem Strandhaus war verwaist. Keiner beobachtete die beiden, jedenfalls niemand, der sich sehen ließ. Yeremi stand noch ganz unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse. Der merkwürdige Angler beschäftigte sie ebenso wie die Neuigkeiten aus dem Hanussen-Buch. Vor allem aber beunruhigte sie Sarafs Entdeckung in der alten Ausgabe des Scientific American. Ihr verdankte sie einen Sonntagsausflug in den Cyberspace, dessen Eindrücke sie noch nicht ganz verarbeitet hatte. Ständig musste sie über die Blutproben von Percey Lytton nachdenken, die auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Deshalb sprach sie eine Bitte aus, ehe Carl auf den eigentlichen Zweck seines Besuches eingehen konnte.
»Kannst du herausfinden, ob eine amerikanische Behörde oder sonst wer um den 17. November herum einen Einsatz in Guyana durchgeführt hat, bei dem Spezialwissen in bakteriologischer Kriegsführung erforderlich war?«
Ihr Großvater seufzte und antwortete kopfschüttelnd: »Eine Verschwörung, die selbst vor einem Genozid nicht zurückschreckt – wo sind wir da nur reingeraten! Ich hoffe, dieser ungeheuerliche Verdacht beruht nicht nur auf dem, was du von Heinz weißt.«
»Von wem?«
»Doktor Sibelius. Er hat dir doch von den israelischen Genforschern und dem manipulierten Anthraxbazillus erzählt.«
Weil die Verflechtungen der jüngsten Ereignisse immer komplizierter wurden und Yeremi nichts Wichtiges auslassen wollte, berichtete sie noch einmal ausführlich von den – teilweise bereits am Telefon angesprochenen – Vorkommnissen der letzten Tage: von dem falschen Angler, den sie verscheucht, von der Fernsehshow, die Saraf berühmt gemacht, und von dem gelben Geist, den er wiederentdeckt hatte.
Als sie den Artikel im Scientific American gelesen habe, hätten bei ihr die Alarmglocken geschrillt. Sofort seien ihr die Pressemeldungen aus der Zeit nach dem Anschlag vom 11. September 2001 eingefallen, und sie habe gleich am nächsten Morgen im Internet ihre Erinnerungen auffrischen wollen. Dabei sei es aber nicht geblieben. Durch Querverweise sei sie auf neue, aufregende Fakten gestoßen. Eine Kette von Milzbrandanschlägen hatte die Vereinigten Staaten nach den Attacken auf das World Trade Center in New York in Angst und Schrecken versetzt. Die Post stellte Briefe mit einem tödlichen weißen Pulver zu, an Abgeordnete, Medienvertreter und andere Personen. Sofort stand Al Kaida unter Verdacht, die Terrororganisation von Osama bin Laden. Das FBI setzte ein Viertel seiner Agenten für die Ermittlungen ein. Am 16. November verschwand dann der Harvard-Professor Don C. Wiley auf rätselhafte Weise von einer Ärztekonferenz in Memphis. Sein Mietwagen stand voll getankt auf einer Mississippibrücke, die Schlüssel im Zündschloss. Es heißt, der Mikrobiologe sei im US-Biowaffenprogramm aktiv gewesen…
»Moment mal!«, unterbrach Carl sie. »Willst du damit andeuten, die Anschläge oder gar das Massensterben des Silbernen Volkes gingen auf das Konto dieses Harvard-Professors?«
»Nein. Zumindest Letzteres ist ausgeschlossen, denn Professor Wiley ist tot. Aber man glaubte anfangs tatsächlich, Terroristen hätten ihn entführt, um sich seines Wissens zu bedienen. Dann wurde jedoch bekannt, dass die Milzbranderreger aus Labors der US-Army stammten, dem weißen Pulver war der Stoff Silica beigemengt, typisch für amerikanisches Waffenanthrax. Am 20. Dezember, also nicht ganz fünf Wochen nach Wileys Verschwinden, fand man seine Leiche. Ab da wird die Sache merkwürdig. In den Medien kursieren unterschiedliche Fassungen von dem grausigen Fund. Offizielle Quellen behaupten, Wiley sei von einer Brücke gefallen und ertrunken. Als introvertierter Einzeltäter habe er die Mittelkürzungen in der Biowaffenforschung durch eine öffentlichkeitswirksame Aktion rückgängig machen wollen, ganz nach der Devise: Wenn ihr den
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