Der silberne Sinn
großen Fantasie. Denk an Lee Harvey Oswald: Kaum jemand sieht in ihm noch den alleinigen Mörder Kennedys, und trotzdem hält die Regierung offiziell immer noch an dieser Version fest. Zwei Tage nach den Schüssen von Dallas war er selbst tot. Und mit Doktor Frank Olson verhielt es sich ähnlich.«
»Nie gehört. Wer soll das sein?«
»Ich bin durch Don Wiley und die gelben Geister auf ihn gestoßen, als ich meine Suchmaschine im Internet mit den Stichworten ›Anthrax‹, ›CIA‹ und ›Mord‹ gefüttert habe. Olson verlor am 28. November 1953 unter obskuren Umständen sein Leben. Selbstmord, hieß es – angeblich hatte man ihm testweise LSD verabreicht. Infolgedessen sei er aus einem Fenster im zehnten Stock des New Yorker Statler Hotel gesprungen. Vierzig Jahre nach dem Vorfall hat seine Exhumierung und Obduktion eine andere Wahrheit ans Licht gebracht: Er war vor dem Sturz durch einen Schlag auf den Kopf betäubt worden.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, gehörte Olson dem CIA an und wurde von den eigenen Leuten ermordet. Was hatte er dann mit Anthrax zu tun?«
»Er war als Wissenschaftler in einer Forschungseinrichtung der Army in Fort Detrick, Maryland, mit der Erprobung biologischer Waffen beschäftigt, darunter auch Milzbrand. Dann wurde er für ein anderes Geheimdienstprogramm angeheuert. Anfangs trug es den Decknamen ›Artischocke‹, später wurde es unter der Bezeichnung ›MK-Ultra‹ bekannt.« Yeremi spürte, wie Carls Körper sich plötzlich versteifte. Sie blickte ihm in die Augen. »Du hast davon gehört?«
Sein Gesicht verriet Unbehagen. »Leider ja. Ich wollte auch mit dir über MK-Ultra reden. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie lange dieses Programm schon existiert.«
»Du machst mich neugierig.«
»Lass mich erst hören, was du noch herausgefunden hast.«
»Also gut. Willst du raten, was für Ziele Artischocke verfolgte?«
Carl machte einen großen Schritt, um einer im Sand liegenden Qualle auszuweichen. »Mir ist nicht nach Quizfragen zu Mute, Jerry.«
»Das Programm, in dem Olson arbeitete, stand für Menschenversuche der übelsten Art. Es war eine direkte Fortsetzung der grausamen medizinischen Experimente, die von den Nazis an den Insassen der Konzentrationslager durchgeführt worden waren. Wohl nicht ganz zufällig befand sich eines der Verhörzentren von Artischocke im Berliner Hauptquartier der US-Army. Eine Reihe von Häftlingen soll die Torturen nicht überlebt haben. Zuerst brach man ihren Willen, dann quetschte man die Wahrheit aus ihnen heraus, und anschließend löschte man ihr Gedächtnis. Man hat die Gefangenen wie Versuchskaninchen verschiedensten Einflussfaktoren ausgesetzt – Hitze, Kälte, atmosphärischem Druck, möglicherweise sogar radioaktiver Strahlung; Drogen wie LSD wurden ihnen verabreicht. Auch Folter gehörte zum Standardverfahren, außerdem – du wirst staunen – Hypnose. «
»Was dich natürlich sofort an deinen Urgroßvater erinnert hat, nicht wahr?«
»Geht es dir etwa anders? Hanussen hat unzählige Menschen hypnotisiert. Und wir wissen, dass der amerikanische G-2 an seinen Fähigkeiten interessiert war. Der Zweite Weltkrieg ist kaum zu Ende, da experimentiert unser Geheimdienst in Berlin munter weiter; diesmal müssen russische Spione und ehemalige Parteigänger Hitlers als Versuchskaninchen herhalten. Vielleicht hoffte man gerade dort, wo die Gedankenkontrolle schon Tradition hatte und Fragmente dieses geheimen Wissens womöglich noch in den Köpfen einiger Menschen existierte, schnell zum Erfolg zu kommen. Ich würde zu gerne wissen, wer die Nazis waren, die dem CIA geholfen haben.«
»Vermutlich soll ich das als Aufforderung verstehen, unsere Spürnase darauf anzusetzen.«
Yeremi lehnte den Kopf an Carls Schulter. »Wenn ich dich nicht hätte!«
Früher wäre in einem solchen Augenblick auf den Lippen des alten Mannes ein seliges Lächeln erschienen, jetzt blieb er ernst. »Also gut, Jerry. Ich kümmere mich darum. Mein Gott, in was für einer Welt leben wir nur! Da stellen die USA andere Staaten wegen der Verletzung von Menschenrechten an den Pranger und scheren sich selbst kein bisschen darum. Sie foltern und bringen ihre Wissenschaftler sogar um. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen das eigene Volk ist allerdings…«
»Vorerst nur eine dunkle Ahnung, die sich hoffentlich nicht bewahrheitet«, fiel Yeremi ihm ins Wort. »Vielleicht verstehst du nun, warum ich Sarafs Gerede von den gelben Geistern so ernst nehme. Je
Weitere Kostenlose Bücher