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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Eltern – durchaus von Jones und seiner Bewegung angetan, die sich um sozial schwache Bevölkerungsgruppen kümmerte. Er genoss breite Unterstützung bis in höchste gesellschaftliche Kreise: George Mascone, der Bürgermeister von San Francisco, rühmte ihn, Gouverneur Jerry Brown bewunderte ihn, und sogar Rosalyn Carter, die damalige First Lady, lobte ihn. Ich will mich damit nicht entschuldigen. Wir alle waren zu leichtgläubig. Vielleicht hat es mir auch am nötigen Einfühlungsvermögen gefehlt, um die Warnsignale zu erkennen.«
    »Was geschah mit Mama und Papa?«
    »Im Gegensatz zu seinem Bruder Nils, der mit seinem Geschäftssinn eher nach mir schlug, besaß dein Vater die Seele eines barmherzigen Samariters. Er wollte sich aktiv für die Verbesserung des Lebens benachteiligter Menschen einsetzen. Deine Mutter war ausgebildete Krankenschwester und hatte sozusagen von Berufs wegen ein Helfersyndrom. Die Arbeit des Volkstempels begeisterte sie. Schließlich engagierten sie sich mit Leib und Seele für Jim Jones’ Kult, weniger aus religiöser Überzeugung, sondern eher aus dem Grund, der sogar den Staat Kalifornien wohlwollend auf Jones’ Arbeit blicken ließ: Sie waren von den Sozialprogrammen des Reverend überzeugt. Kurze Zeit später sind deine Eltern mit ihm nach Guyana gegangen… und dort starben sie dann auch…« Wieder versagte Carl die Stimme.
    Yeremi war anfangs viel zu benommen, um auf seine Gefühle zu reagieren. Sie musste erst ihren eigenen inneren Aufruhr niederkämpfen, fühlte sie sich doch verletzt von seiner Lüge. Ja, genau so empfand sie das jahrelange Schweigen ihres Großvaters: als ein Verschleiern der Wahrheit. Wie sollte sie ihm je wieder vertrauen? Einmal mehr kam sie sich manipuliert vor. Warum hatte ausgerechnet Carl sie so verletzen müssen!? Aber dann erinnerte sie sich an ihre Selbstzweifel, und die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit öffnete allmählich ihr Herz. Nach längerem Schweigen tröstete sie ihn doch, wenn es ihr auch große Kraft abverlangte.
    »Was ist aus diesem S. Arthur Moltridge geworden?«, fragte sie schließlich.
    »Nach dem Jonestown-Massaker war er wie vom Erdboden verschluckt.«
    »Bist du je einem seiner Kollegen begegnet?«
    Carl nickte. Seine Stimme war wegen der Brandung des Ozeans kaum zu verstehen. »Nachdem Moltridge die Hanussen-Akten scheinbar ohne befriedigendes Ergebnis durchgearbeitet hatte, kreuzte er eines Tages mit einem sehr alten Mann auf, einem Deutschen namens Becker, Bäka oder so ähnlich. Der wollte Rose unbedingt sprechen. Obwohl Mutter gegenüber ›Besuchern aus ihrem früheren Leben‹ eher ablehnend eingestellt war, weckte die Herkunft des Gastes in diesem Fall ihre Neugierde. Sie erklärte sich bereit, Becker zu empfangen.« Carl seufzte.
    »Und?«
    »Nichts. Jedenfalls, was die Unterhaltung betraf. Sie war ausgesprochen kurz. Rose wirkte gleich nach der Begrüßung Beckers verstockt wie ein trotziges kleines Mädchen. Nachdem er wieder gegangen war, hat sie mir gesagt, weshalb sie ihm nichts verraten wollte: Als sie Hanussen am 27. Februar 1933 in dessen Berliner Wohnung besucht hatte, sei auch dieser Mann zugegen gewesen. Einen Irrtum schloss sie kategorisch aus, denn es habe früher zu ihrem Beruf gehört, sich Gesichter und die dazugehörigen Geschichten zu merken. Jedenfalls sei Hanussen ihm und einigen anderen Fremden gegenüber sehr misstrauisch gewesen, denn er habe sie mit herrischer Geste hinausgeschickt. Das, sagte Mutter noch, sei für sie Grund genug, dem Deutschen nichts zu erzählen.«
    Yeremis Augen waren bei Carls letzten Worten immer größer geworden. Aufgeregt sagte sie: »Ich habe in Urgroßvaters Nachlass etwas von einem Doktor W. Baecker gelesen, der regelmäßig Horoskope für die Hanussen-Zeitung aufgestellt hat. Das hört sich ja fast so an, als wären dieser ›Nazispitzel‹ – so nannte Hanussen ihn in einem Brief an seinen Sekretär – und der Begleiter von Moltridge ein und dieselbe Person!«
    »Dazu kann ich weiter nichts sagen. Rose hat den Vornamen des Mannes nie erwähnt, dem sie im Palast des Okkultismus begegnet ist.«
    Yeremis Blick sank zu den Sandbildern herab, die Carls Füße geschaffen hatten.
    Der alte Mann ließ sich schwerfällig vom Felsen rutschen und breitete die Arme aus. »Komm, Jerry! Shakespeare hat einmal geschrieben: ›Lasst die Erinnerung uns nicht belasten mit dem Verdrusse, der vorüber ist.‹ Mir ist heute klar geworden, was für ein alter Trottel ich gewesen

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