Der silberne Sinn
Vermächtnis schien keinen einzigen konkreten Hinweis auf die Natur der empathischen Telepathie zu enthalten.
Sie nahm einen Bleistift, holte ein neues, noch jungfräuliches Blatt aus dem lackierten Holzkasten auf ihrem Schreibtisch und zeichnete in dessen Mitte eine Ellipse, die eigentlich ein Kreis hätte werden sollen. Wie das blinde Auge eines Zyklopen glotzte das missgestaltete Ding sie an. Was als Jagd nach gelben Geistern begonnen hatte, war für sie längst zu einer Suche nach dem eigenen Ich geworden. Jeder Mensch stellte sich irgendwann die zentralen Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Und wohin gehe ich? Carls Schuldbekenntnis zum Tod der Schwiegertochter und des eigenen Sohnes mochte zwar den Weg zu den Antworten weisen, nur wusste Yeremi die Zeichen nicht zu deuten. Im Nachhinein glaubte sie mehr als einmal sein dunkles Geheimnis gespürt zu haben. Diese Einsicht beunruhigte sie zutiefst.
In ihrem Stammbaum reihten sich höchst seltsame Phänomene wie schwarze Perlen aneinander: angebliche Wundertaten, Telepathie und sogar Gefühls- und Gedankenkontrolle. Wohin sollte das noch führen? Mal waren ihre Vorfahren Opfer, dann wieder selbst Akteure solch »unheiligen Treibens«, wie ihr Großvater sich auszudrücken pflegte. Und diese Folge von Manipulationen reichte – eine für Yeremi unerträgliche Vorstellung – bis in ihr eigenes Leben hinein!
»SAM«: Langsam malte sie die drei Buchstaben in das Oval. Sie standen für S. Arthur Moltridge. Schnell kamen weitere Kreise, Rechtecke, Initialen und Verbindungslinien hinzu, ließen das Diagramm bald wie ein Atommodell aussehen: »Jonestown«, »JWJ«, »LR« – die Symbole für den Ort des Massakers, den Kultführer James Warren Jones, Congressman Leo Ryan und für all die anderen Beteiligten und Betroffenen umkreisten den Kern. Auch der geheimnisvolle Name »Sam Iceberg« bekam einen Kringel. Yeremi notierte das Pseudonym, weil sie die wirkliche Person hinter dem Decknamen nicht kannte. Und dabei stutzte sie. Wenn Iceberg in Wahrheit anders hieß, dann könnte auch der Vorname Sam ein künstliches Gebilde sein. Vielleicht ein Akronym…
Die drei Anfangsbuchstaben von Moltridges Namen lauteten ebenfalls »S. A. M.«!
Einen Moment lang schienen die Symbole des Diagramms auf Yeremi zuzustürzen. Sie kam sich vor, als kreise sie selbst mit den Kringeln und Rechtecken um das Zyklopenauge. Diese Übereinstimmung – war das nur ein Zufall? Hanussen wollte das Telepathieprojekt des amerikanischen Militärgeheimdienstes unterstützen und sich damit die Fahrkarte in die Neue Welt erkaufen. Hätten die Amerikaner – immer vorausgesetzt, G-2 war tatsächlich an der Kooperation interessiert – nach Hanussens Ermordung gleich die Flinte ins Korn geworfen? Wäre ein Szenario nicht viel plausibler, in dem der Geheimdienst alles daransetzte, doch noch an das geheime Wissen des Telepathen zu gelangen? Der 1947 gegründete CIA hatte sich, wie hinlänglich bekannt, nicht gescheut, alte Nazis unter Vertrag zu nehmen. Das Artischocke-Programm lieferte den Beweis dafür. Doktor W. Baecker, ein Mann, der sich als Hanussen-Kenner ausgegeben haben mochte, wäre dort bestimmt mit offenen Armen empfangen worden. Baeckers Führungsoffizier könnte Sam Iceberg gewesen sein. Oder hieß der Agent in Wirklichkeit S. Arthur Moltridge?
Yeremi griff spontan zu ihrem Handy und wählte eine Nummer in San Francisco. Nach kurzem Klingeln meldete sich eine weibliche Stimme.
»Hallo?«
»Sandra, ich bin’s. Entschuldige, wenn ich dich so spät noch störe.«
»Macht nichts. Alles okay mit dir? Du klingst so bedrückt.«
»Eher nachdenklich. Könntest du in die ›Schwarze Kammer‹ kommen?«
»Oh! Hört sich ja verschwörerisch an. Ich bin gleich online.« Es klickte.
Yeremi legte ihr Handy zur Seite und schaltete das Notebook ein. Ursprünglich dienten die Schwarzen Kammern den Regierungen zur Entschlüsselung der Korrespondenz fremder Staaten. Die »Geheime Kabinettskanzlei« im Wien des achtzehnten Jahrhunderts war berühmt-berüchtigt für ihre Effizienz. Aber auch die USA unterhielten mit Herbert Yardleys MI-8 in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine nicht immer erfolglose Black Chamber. Sandra Schroeder hatte schon als leitende Chefredakteurin der Schülerzeitung ein Faible für Geheimnisse gehabt. Von ihr stammte die Namensgebung für jenen privaten Internet-Chatroom, den sie in der Studienzeit eingerichtet hatte, um sich und ihrem »Cousinchen« Yeremi einen
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