Der silberne Sinn
erst heute mit diesen Informationen heraus, Opa Carl? Wenn Jeff Flatstone in Verdacht steht, Leo Ryan ermordet zu haben, dann hat er vielleicht auch meine Eltern auf dem Gewissen.«
Der Gefragte stocherte wie ein kleiner Junge mit den Fußspitzen im Sand. Sein finsterer Blick folgte den rätselhaften Spuren. Unwillig brummte er: »Der Mord an Lars und Rachel hat auch mich fast um den Verstand gebracht, das kannst du mir glauben, Jerry! Damals habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Licht in das Dunkel der so genannten Weißen Nacht zu bringen. Du darfst nicht vergessen, vor siebenundzwanzig Jahren waren nur wenige Fakten zu dem Vorfall bekannt. Erst durch Clintons Executive Order 12958 sind unsere Behörden dazu gezwungen worden, viele bis dahin als topsecret eingestufte Dokumente nach einer Sperrfrist von fünfundzwanzig Jahren herauszurücken. Einige der Jonestown-Akten stehen der Öffentlichkeit also erst seit knapp zwei Jahren zur Verfügung, andere – und das halte ich zumindest für verdächtig – sind immer noch als geheim klassifiziert. Was also hätte ich seinerzeit tun sollen? Alles deutete auf Jim Jones als den Hauptschuldigen hin, den charismatischen Sektenführer, der seine Anhänger mit sich in den Tod nahm. Ohne Eddys Ermittlungen wäre ich diesem Schweinehund Flatstone nie auf die Schliche gekommen.«
»Warum habe ich nur das Gefühl, du verschweigst mir trotzdem was?«
Carl hob, wie bei einem verbotenen Spiel ertappt, erschrocken den Blick. Argwöhnisch musterte er seine Enkelin, um letztlich doch zu gestehen: »Vermutlich, weil es so ist.«
»Du…?«
»Ehe du mich verurteilst, höre mir bitte erst zu. Ich wollte ohnehin darüber sprechen. Es gibt da eine schreckliche Sache, die ich dir mit Absicht all die Jahre verschwiegen habe. Doch damit ist jetzt Schluss.«
Yeremi hatte das unbestimmte Gefühl, gleich würde eine Bombe platzen, die sie in Stücke reißen könnte. Unbewusst suchten ihre Hände auf dem steinigen Untergrund Halt. »Hat diese… Sache wieder mit Hanussen zu tun?«
Der alte Mann bewegte den Kopf auf eine Weise, die eine Vielzahl von Deutungen zuließ. Voll Schmerz blickte er dabei in das Gesicht seiner Enkelin und sagte schließlich: »In Wirklichkeit trage ich die Schuld am Tod deiner Eltern.«
Wie vom Donner gerührt, starrte Yeremi ihn an. Einmal mehr schüttelte sie ungläubig den Kopf, noch heftiger als zuvor. Dieses Geständnis war wie ein Eiszapfen, der sich in ihr Herz bohrte. Sie entwand sich ihrem Großvater und lief einige Schritte auf das Meer zu, blieb stehen, drehte sich weinend zu ihm um, rannte noch einmal, bis ihre Schuhe im nassen Sand einsanken, und fuhr abermals herum. Sie warf die Arme in die Höhe und schrie: »Nein, das kann ich nicht glauben. Du hättest sie nie mit Absicht getötet. Aber…« Sie knickte mit den Knien ein, als würde sie jeden Moment zu Boden sinken, fing sich dann aber doch wieder ab und rief: »Sag mir die Wahrheit, Opa Carl, die ganze, unverhohlene, schmutzige, schmerzhafte Wahrheit. Nimm keine Rücksicht auf mich: Wie hast du das gemeint?«
Carls Miene verriet, wie sehr Yeremis Qualen ihn bewegten. Er streckte eine Hand nach ihr aus und flehte: »Komm zurück, Jerry! Schau doch, die Wellen machen dich ganz nass. Du wirst dich erkälten…«
»Ohne Rücksicht!«, schrie sie trotzig und stampfte mit dem Fuß auf, dass es nur so platschte. Ihr Gesicht war eine schmerzverzerrte Grimasse. Die Tränen rannen in Strömen über ihre Wangen.
»Bitte, Jerry! Lass uns in Ruhe darüber reden.«
Unwillig stapfte sie ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber im sicheren Abstand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stehen. »Ich höre.«
Carl stieß einen tiefen Seufzer aus und begann: »Mitte der Siebziger ist ein gewisser S. Arthur Moltridge bei mir aufgetaucht. Redselig berichtete er von seiner Arbeit für ein Regierungsprojekt, das sich um sozial schwache Menschen kümmere, die gewisse Verhaltensmuster an den Tag legten, durch die sie jede Verbesserung ihrer Lebenssituation selbst blockierten. Der Psychologe forschte an wirksamen Methoden, um diese »Fehlschaltungen« schnell zu beheben. Dabei war er auf das »Hanussen-Dossier« eines gewissen Erich Adolf Juhn gestoßen, in dem auch Martha Farra alias Rose Presi erwähnt wurde. Weil es insgesamt drei Assistentinnen dieses Namens gegeben habe, verliefen die Ermittlungen zunächst im Sande. Unter Hinzuziehung von mittlerweile öffentlich gemachten
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