Der silberne Sinn
bin. Vor lauter Sorge um dich habe ich dir Dinge verschwiegen, die zu wissen dein gutes Recht ist. Das war ein Fehler. Kannst du mir verzeihen?«
Unsicher erwiderte sie seinen flehenden Blick. Auf ihrer Wange glitzerte eine einzelne Träne. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sank in seine Arme. Ihr Kinn lag auf seiner Schulter. Erst schniefte sie. Und dann hörte er deutlich ihr Flüstern.
»Ich verzeihe dir.«
GLEICHUNG MIT VIELEN UNBEKANNTEN
Pacific Grove (Kalifornien, USA)
26. Dezember 2005
22.10 Uhr
Die Zeitgenossen beschrieben Erik Jan Hanussen als einen untersetzten und muskulösen Mann von gerade mal einem Meter fünfundsechzig. Entgegen den üblichen Klischees, die schon lange vor Hitlers Machtergreifung das Bild »des Juden« geprägt hatten, habe er brennende graublaue Augen und mittelblondes Haar gehabt, das er straff und glatt nach hinten gekämmt trug, meist links gescheitelt. Seine Stirn sei niedrig gewesen, die Augenbrauen buschig und die Lippen wulstig. Er wusste sich korrekt zu kleiden – nur Maßanzüge! – und trug oft einen Hut. Zu seinen Markenzeichen gehörte fernerhin ein überlegenes Lächeln, das von Wissen zeugte, zu dem gewöhnliche Menschen keinen Zugang besaßen. Seine Ernährung habe hauptsächlich aus Kaffee und Zigaretten bestanden, was erklären mochte, weshalb er als unruhig und fahrig dargestellt wurde. Das Image eines in fremden Sphären vagabundierenden Geistes schien darunter nicht zu leiden, eher im Gegenteil. Dennoch fragte sich Yeremi, was die Menschen so an Hanussen faszinierte.
Sie blickte von dem scharlachroten Buch zum Fenster auf. Die Läden hatte sie fest verschlossen, obwohl der Strand frei von Anglern mit Sonnenbrillen war. Aber konnte sie sicher sein, dass nicht andere finstere Gestalten da draußen durch die mondlose Nacht schlichen?
Der Mercedes 600 stand in der Garage, vor neugierigen Blicken geschützt. Nach dem Frühstück würde sie mit Saraf in das lange Fahrzeug steigen und sich auf dem Boden verstecken, bis Carl es auf den Highway gelenkt hätte. Wenn Flatstone das Strandhaus observieren ließ und tatsächlich ein hohes Tier im Geheimdienst war, dann verfügte er natürlich über erstklassige Profis, denen der heimliche »Umzug« nach Bellman’s Paradise nicht lange verborgen bleiben würde. Der CIA war mächtig.
Andererseits mochte Flatstones Weiße-Götter-Manie ein Privatvergnügen sein; die Hand voll Spione konnte er aus der Portokasse bezahlen. Die Halbherzigkeit des zweimal vertriebenen und bis jetzt nicht zurückgekehrten Anglers sprach eher für diese Vermutung. Ja, so muss es sein, dachte Yeremi. Agententhriller, ob nun in Hollywood oder von irgendeinem überspannten Romancier inszeniert, hatten bei ihr stets Skepsis hervorgerufen. Warum sollte ausgerechnet eine unbedeutende Anthropologin ganze Beobachtungsteams des CIA in Atem halten? Vielleicht würde sie mit Carls Hilfe bald Licht in das mysteriöse Massensterben unter dem Dach des Waldes bringen. Der Umzug nach Morgan Hill würde ihr die nötige Atempause verschaffen. Dort konnte sie ihre Suche bis Neujahr ungestört fortsetzen.
Yeremi konzentrierte sich wieder auf die Hanussen-Dokumentation von Wilfried Kugel. Wenn das Buch des Deutschen bisher auch keinerlei Hinweise auf eine Verbindung ihres Urgroßvaters zum G-2 geliefert hatte, verhalf es ihr doch zu einem umfassenderen Verständnis des Mannes, dessen Blut zu einem Achtel in ihren Adern floss. Bereits zu seinen Lebzeiten hatte Hanussen das Interesse der Wissenschaft geweckt, und es blieb bis in Yeremis Kindertage wach. Beunruhigend war allerdings die Hartnäckigkeit seiner Widersacher – vorausgesetzt, der bei Urgroßmutter Rose aufgekreuzte »Besucher aus dem früheren Leben« war mit dem »Nazispitzel« Doktor W. Baecker identisch. Um welche Geheimnisse ging es in dieser generationsübergreifenden Jagd eigentlich? Immer wieder war von Gefühlskontrolle die Rede. Offenbar wollte man wissen, wie Hanussen sich so viele Menschen – vor allem auch Frauen – gefügig machen konnte. War es allein die Aura des Despoten gewesen? Oder steckte mehr dahinter?
Yeremi schob das Buch zur Seite und blickte mutlos auf das Diagramm Nummer zwei mit den vielen Linien und Kreisen, die sich um Erik Jan Hanussens Symbol gruppierten. Demonstrativ drehte sie es um. Die weiße Rückseite des Blattes war ein Sinnbild ihrer Unkenntnis. Tabula rasa. Alles, was sie hatte, waren Andeutungen und Vermutungen, aber Hanussens
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