Der silberne Sinn
Sandra.«
»Aber das weiß ich doch, Cousinchen. Und sieh dich vor, Jerry! Cheerio!«
Yeremi schloss die Tür zur Schwarzen Kammer. Gerade wollte sie die Verbindung zum Internet unterbrechen, als ihr Finger über der Maustaste verharrte. In ihrem Kopf hatte sich ein Gedanke zu Wort gemeldet, der sich sofort zu einem inneren Konflikt ausweitete. Seit mindestens fünfzehn Jahren mied sie alles, was mit den mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Vorfällen in und um Jonestown zusammenhing. Doch jetzt sah sie sich – gezwungenermaßen – wieder in das Geschehen zurückversetzt, das sie so lange verdrängt hatte, weil ihr die gesuchten Antworten im Teenageralter unerreichbar erschienen waren.
Sie stieß einen leisen Seufzer aus und rief die Homepage ihrer bevorzugten Suchmaschine auf. Dort tippte sie Begriffe wie »Jonestown«, »Jim Jones« und »Leo Ryan« ein und wunderte sich bald über die Fülle von Namen, Fakten und Spekulationen, die ihr in Sekundenschnelle angeboten wurden; Anfang der Neunzigerjahre waren der Öffentlichkeit längst nicht so viele Informationen zum so genannten Jonestown-Massaker verfügbar gewesen wie jetzt. Yeremi entschied sich, vorerst nicht tiefer in das Material einzusteigen. Stattdessen kopierte sie etwa eine halbe Stunde lang lediglich alle irgendwie interessant aussehenden Webseiten auf die Festplatte ihres Notebooks. In den nächsten Tagen würde sie eine Menge zu lesen haben.
Mit Grübelmiene wandte sie sich wieder ihrem neuesten – dem mittlerweile dritten – Diagramm zu.
Der CIA-Abteilungsleiter Sam Iceberg und der Regierungspsychologe S. Arthur Moltridge – handelte es sich um ein und dieselbe Person? Die Frage ließ ihr keine Ruhe, denn wenn der eine nur das Alter Ego des anderen war, dann wäre Jefferson H. Flatstone womöglich der geistige Erbe von Arthur Moltridge, so wie dieser…
In Yeremis Kopf entstanden mit einem Mal neue aufregende Gedankenverbindungen. Erst als Hanussens Vermächtnis für Moltridge wertlos geworden war, hatte der noch einen letzten Trumpf aus dem Ärmel gezaubert: den ehemaligen Nazi Doktor W. Baecker – so es denn derselbe Mann war, der einst für die Hanussen-Zeitung geschrieben und angeblich als brauner Spitzel gearbeitet hatte. Jedenfalls war Rose dem Deutschen schon einmal 1933 in Hanussens Wohnung begegnet. Yeremi schob Diagramm Nummer drei zur Seite und betrachtete wieder den darunter zum Vorschein kommenden Zettel, auf dem sie ihre Hanussen-Recherchen grafisch zusammengefasst hatte. Beide Schaubilder lagen jetzt nebeneinander.
Plötzlich fing ihr Herz heftig an zu schlagen. Mit fahrigen Bewegungen kramte sie Diagramm Nummer eins – die »Silbervolk-Skizze« – hervor und legte es links neben die beiden anderen Blätter. Vor ihren geweiteten Augen begannen die Schaubilder zu verschmelzen. Abwesend strich sie ihr Haar aus dem Gesicht, drehte die drei Bögen um und verband sie auf der Rückseite mit Klebestreifen. Hiernach zog sie auf dem daraus entstandenen Metadiagramm neue Linien. Um die Symbole von Moltridge und Iceberg legte sie ein gestricheltes Lasso. Auch einige der Verbindungen zeichnete sie als unterbrochene Pfeile, weil die Identität der betreffenden Personen noch nicht eindeutig geklärt war. Am Ende ergab sich ein ganz neues Beziehungsgeflecht, das von Hanussen über Baecker zu Moltridge führte und von dessen Alter Ego Sam Iceberg zu Flatstone. Und Letzterer stand wiederum mit Al Leary in Verbindung, von dem jeweils ein Pfeil zu Yeremi und zu Saraf Argyr zeigte.
Yeremi lehnte sich schwer in ihren Drehsessel zurück, ohne die Augen von dem Metadiagramm zu nehmen. Sie fühlte sich ausgelaugt wie nach einem Marathonlauf. Sollten alle angenommenen Verflechtungen auf der Übersicht stimmen, dann… Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihr Handeln und ihre Gefühle wären auf unvorstellbare Weise manipuliert worden.
Das vor ihr liegende, skizzenhafte Szenario sprach leider für diese Befürchtung. Zwei oder sogar drei Männer aus ebenso vielen Generationen verfolgten ein gemeinsames Ziel: Sie wollten die Gefühle von Menschen steuern und glaubten in Hanussen den Schlüssel zu diesem geheimnisvollen Vorgang entdeckt zu haben.
Sie mussten der Ansicht gewesen sein, Hanussens telepathische Experimente beruhten entweder auf einem erlernbaren Prinzip oder auf einer angeborenen Begabung. Für die letztgenannte Möglichkeit sprach sein Vorfahr, der berühmte Wunderrabbi von Prossnitz. Gab es also tatsächlich eine
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