Der silberne Sinn
dem festungsartigen Königspalast – zur Hand gehen. So wurde Saraf Argyr als Sklave dem Mann unterstellt, der den Titel ›Hüter des königlichen Schatzes‹ trug, mithin das Versteck des Gedächtnisses des Silbernen Volkes kannte. Von dem kleinen Zirkel vertrauenswürdiger Personen, denen dieses Wissen anvertraut war, lebte nur noch er.
Obwohl unfrei, erfreute sich Saraf Argyr nach seiner Verurteilung friedlicher Wochen, die ihn wie kaum eine andere Zeit in seinem Leben prägten. Der kinderlose Fürst Roca erkannte die guten Anlagen des ›Silberknaben‹ und behandelte ihn bald wie einen eigenen Sohn.
Doch dann eroberten die Spanier Cuzco. Die Macht des Silbernen Volkes war in den Augen ihrer Priester ›Teufelswerk‹, und so trieben sie die Menschen in einem großen Hof zusammen, der zur Königsfestung Sacsahuaman gehörte. Auch Roca und andere Adlige wurden dort unter Arrest gestellt, weil die Spanier nach verborgenen Schätzen gierten; durch Folter wollten sie ihre Geiseln zum Verrat der Verstecke ›überreden‹.
Unter der gemeinsam ertragenen Mühsal der Gefangenschaft kamen sich der junge Saraf Argyr und Fürst Roca näher als je zuvor. Die Spanier hatten gerade das Jahr des Herrn 1534 ausgerufen, als ein Getreuer des Hüters eine furchtbare Nachricht in den Palasthof schmuggelte. Weil Pizarro einen Aufstand fürchtete, beabsichtigte er, sich der Gegner nach bewährter Manier zu entledigen: durch eine Bluttat. Die Spanier wollten bei Nacht alle Feinde töten, die Silbernen eingeschlossen. Angeblich habe Bartolome de Vega, der als Chronist in Pizarros Diensten stand, den Gouverneur noch händeringend um Gnade angefleht. ›Lasst wenigstens die Kinder des Silbernen Volkes am Leben!‹, soll er gerufen haben. Aber das Blutbad war längst beschlossen.
In dieser verzweifelten Lage nahm Roca den Knaben Saraf Argyr auf die Seite und sagte: ›Du wirst deine Brüder und Schwestern in die Freiheit führen.‹
Der Junge antwortete verwirrt: ›Aber wie soll das gehen?‹
Roca flüsterte: ›Es gibt einen Fluchtweg, einen schmalen Zugang, der in die unterirdischen Tunnel hinabführt.‹
›Dann können wir doch alle fliehen‹, sagte Saraf Argyr. Tränen schossen ihm in die Augen.
›Nein, mein Junge‹, erwiderte der Fürst traurig. ›Wir Männer sind zu groß für den Durchschlupf, und unsere Frauen wollen uns nicht im Stich lassen. Nur Kinder können sich in den Eingang zwängen. Schon du wirst ihn nur mit Mühe durchqueren können. Für einen anderen Plan fehlt uns die Zeit, denn heute Nacht werden die Meuchler kommen. Und jetzt höre mir gut zu, mein Sohn. Nur wenn du die folgenden Worte im Sinn bewahrst, wirst du dein Volk zu einem neuen Anfang führen können.‹
Der Fürst vertraute Saraf Argyr ein Geheimnis an, das dem Jungen wie eine schier unerträgliche Bürde erschien, weil es von unermesslichem Wert war. Roca sagte, damit wolle er sein Gewissen reinwaschen, bevor er sterbe; er gebe dem Silbernen Volk zurück, was ihm ohnehin gehöre: sein Gedächtnis. Damit überreichte er dem Knaben ein buntes Korallenhalsband mit einem goldenen Anhänger…«
»Ist es das da?«, unterbrach Yeremi den Erzähler und deutete dabei auf Sarafs Perlenschnur.
Er nickte.
Jetzt glaubte Yeremi zu verstehen, weshalb er das kostbare Stück nie ablegte. Offenbar handelte es sich um eine Fürstenkette, um ein Insigne der Hüter des Silbervolkes. Saraf schwieg eine Weile und gab so seiner Zuhörerin die Gelegenheit, Ruhe in das Stimmengewirr ihrer Gedanken zu bringen, bevor er fortfuhr.
»Als im Festungshof Stille eingekehrt war, öffnete Roca den verborgenen Zugang in die unterirdischen Tunnel. Ein Kind nach dem anderen schlüpfte in den dunklen Schacht. Plötzlich flammten Fackeln auf. Im Hof brach lautes Geschrei aus. Obwohl nur wenige wussten, was sie erwartete, ahnten sie es doch längst. Dann fielen die ersten Schüsse von der Mauer herab. Noch immer waren nicht alle Kinder in Sicherheit. Inka und Silberne starben Seite an Seite, als hätte es unter ihnen nie Herren und Sklaven gegeben. Zuletzt schob der junge Saraf Argyr seine Schultern durch die schmale Öffnung. Nur mit Mühe und dem vereinten Ziehen einiger Kinder konnte er endlich den Oberkörper in das Loch bekommen. Aber dann packte ihn kaltes Entsetzen: Sein Unterleib steckte fest.
Die Kinder zogen heftiger. Er glaubte, sie würden ihm die Arme aus- oder gleich den ganzen Oberkörper abreißen, als ihn plötzlich von hinten eine gewaltige Faust traf
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