Der silberne Sinn
habe er furchtbare Schmerzen zu ertragen, bäumte sich auf, warf den Kopf hin und her. Gemurmelte Worte und ängstliche Rufe wechselten sich ab.
Yeremis Hand näherte sich Sarafs Schulter. Sie musste ihn aufwecken. Plötzlich schrie er laut auf. Ihr Arm schreckte zurück.
»Nehmt! Nehmt, was ihr wollt! Doch lasst uns unser Gedächtnis. Es ist alles, was wir haben«, stieß er auf Spanisch hervor, was Yeremi einigermaßen erstaunte. Atemlos schnappte sie weitere Satzfetzen auf. Da war von Atahualpa die Rede – dem Inkakönig, wie sie sehr wohl wusste –, auch von Francisco Pizarro. »Lasst wenigstens die Kinder des Silbernen Volkes am Leben!«, flehte Saraf und schrie abermals.
Die Qualen des Träumers waren selbst für Yeremi nicht länger zu ertragen. Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte mit aller Kraft. Plötzlich schnellten zwei Hände aus der Dunkelheit und packten ihre Unterarme. Vor Schreck schien ihr das Herz aus der Brust zu springen.
»Saraf, despierta de una vez!«, schrie sie: Saraf, wach schon endlich auf!
Und er erwachte.
Seine blauen Augen starrten sie entgeistert an.
»Du hast geträumt«, sagte sie rasch.
Der Zangengriff löste sich. Schamvoll zog er die Bettdecke hoch, bis nur noch Kopf und Schultern herausschauten. Yeremi trat zurück. Das Licht aus dem Nebenzimmer fiel jetzt direkt auf Sarafs Gesicht. Die Angst hatte sich dort eingenistet.
»In letzter Zeit sucht mich dieser Traum wieder öfter heim«, sagte er wie zur Entschuldigung.
Sie nickte. Die Situation war ihr unangenehm. »Ich kenne das. Besser, als du denkst. Wenn es dir wieder gut geht, dann kann ich ja jetzt…«
»Habe ich im Traum gesprochen?«, unterbrach Saraf sie.
Yeremi zögerte.
»Was habe ich gesagt?«, fragte er.
»Du hast die Namen von Atahualpa sowie von Pizarro gerufen. Und dann diese verzweifelte Bitte, die ›Kinder des Silbernen Volkes‹ nicht zu töten. Was hat das zu bedeuten?«
Saraf atmete schwer. Er senkte den Blick auf die weiße Seidendecke, als könne er dort, wo seine großen, müden Hände lagen, Erleuchtung finden. So verharrte er wie in tiefer Meditation. Yeremi glaubte schon, sich heimlich aus dem Raum stehlen zu können, als er ihr unvermittelt in die Augen sah.
»Bitte bleib!«
»W-was…?«
»Komm, setz dich zu mir aufs Bett.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
Sie starrte auf die ausgestreckten Finger, als könnten sie jeden Moment Giftpfeile verschießen. Anstatt der Einladung zu folgen, zog sie einen nahe stehenden Hocker heran und nahm darauf Platz.
Saraf wirkte sehr nachdenklich, aber dann fragte er unverblümt: »Du glaubst, ich würde dir misstrauen, nicht wahr?«
Yeremis Blick wanderte unstet zwischen seinem Gesicht, der Halskette und seinen Händen hin und her.
»Du brauchst nichts zu sagen«, fuhr er leise fort. »Ich weiß es, und es schmerzt mich, wo du doch schon so viel für mich getan hast. Glaube mir, es gibt Gründe, weshalb ich jetzt nicht darüber sprechen kann… Aber wenigstens eine Ahnung sollst du haben, damit du mich vielleicht verstehst.«
»Ich möchte dich zu nichts zwingen, Saraf.« Erneut versuchte Yeremi aufzustehen, doch er hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Sie ließ sich wieder auf den Hocker fallen.
Seine Finger spielten mit den Perlen der Halskette, während er wohl nach passenden Worten suchte, um das zu erzählen, was er so lange verborgen hatte.
»Als ich unter dem Dach des Waldes in dein Zelt kam«, begann er schließlich mit leiser Stimme, »erzählte ich dir von dem Knaben Saraf Argyr, dessen Bestimmung es war, sein Volk zu einem neuen Anfang jenseits des Horizonts zu führen.«
»Ich erinnere mich an jedes Wort.«
»Aber ich habe dir nicht alles über den Jungen berichtet. Als er Pizarro und seiner mordenden und plündernden Horde entronnen war, eilte er nach Cuzco, in die Hauptstadt, um die Seinen und ihre Herren vor den Konquistadoren zu warnen. Doch man hielt ihn für einen Hochverräter. Es kam zu einem Prozess, dessen Ziel darin bestand, den Knaben mit den Einzelheiten seiner baldigen Hinrichtung vertraut zu machen. In seiner Not gebrauchte er zum ersten Mal bewusst den Silbernen Sinn, um die Gefühle anderer Menschen in eigennütziger Absicht zu beeinflussen. Entgegen aller Erwartung wich das Misstrauen der Adligen unvermittelt einer wohlwollenden Gnade. Der Junge sei viel zu nützlich, um ihn als Menschenopfer zu verschwenden, verkündete der Vorsitzende, er könne doch dem Fürsten Roca in Sacsahuaman –
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