Der silberne Sinn
Kugels und ließ das virtuelle Paket fallen.
»Weg damit!«, flüsterte sie und drückte auf die Schaltfläche mit der Aufschrift »Senden«.
Die Übertragung lief. Unglücklicherweise hatte der deutsche Hanussen-Experte seiner Mail mehrere Dutzend Megabytes an Faksimiles beigefügt: eingescannte Briefe, Urkunden und andere Dokumente. Selbst das schnelle Campusnetzwerk würde ein oder zwei Minuten brauchen, um diesen Datenberg abzutragen. Erst anschließend konnte sie die Mitteilung mit sämtlichen Anhängen löschen und damit ihre Spuren verwischen. Ungeduldig flog ihr Blick hin und her zwischen dem Bildschirm, der den Status der Übertragung anzeigte, und ihrem Handy, auf dem Sarafs Hände noch immer damit beschäftigt waren, die Quipus in Müllsäcke zu verstauen.
Die Fortschrittsanzeige des E-Mail-Programmes signalisierte einundneunzig Prozent. Zweiundneunzig, dreiundneunzig…
»Jerry! Ich wusste gar nicht, dass Sie in der Fakultät sind.«
Yeremi schrak heftig zusammen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Kunstmuseum gerichtet und daher das Öffnen der Bürotür völlig überhört. Schnell ließ sie ihr Handy in der Hosentasche verschwinden und gab sich alle Mühe, nicht ertappt auszusehen. Sie brachte sogar ein schwaches Lächeln zu Stande.
»Das bin ich auch nicht, Stan. In ein paar Minuten verschwinde ich wieder. Ich war gerade in der Gegend, und da fielen mir ein paar Dateien ein, die ich letzte Woche auf dem Server vergessen hatte. Ich wollte sie am Wochenende durchgehen. Es geht um unser Projekt.«
»Natürlich, worum sollte es sonst gehen?« McFarells großväterliches Gesicht lächelte, aber seine grünen Augen blieben kühl.
Yeremi warf einen raschen Blick auf den Bildschirm. Achtundneunzig Prozent.
»Kommen Sie doch bitte kurz in mein Büro, Jerry. Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«
»Können wir das nicht am Montag tun, wenn…?«
»Nein, es ist dringend«, unterbrach der Dekan sie, immer noch freundlich, aber seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Er hatte die Tür ganz aufgestoßen und lud Yeremi mit ausgestrecktem Arm zum Vorangehen ein.
Neunundneunzig Prozent. Die Übertragung war praktisch abgeschlossen. Aber die Daten mussten noch gelöscht werden. Yeremi erhob sich langsam aus ihrem Stuhl.
»Was ist denn?«, drängte der Dekan. »Nun kommen Sie schon!«
Aus den Augenwinkeln sah sie die Fortschrittsanzeige verschwinden; Hanussens Dossier reiste jetzt durch den Cyberspace. Yeremi hätte am liebsten laut aufgeschrien. Das Löschen der Daten erforderte nur einen einzigen Mausklick – wenn man es entsprechend vorbereitete. Aber das hatte sie nicht getan. Widerwillig umrundete sie den Schreibtisch und zwängte sich an McFarell vorbei durch die Tür.
»Sie hören Musik?«, sagte der Professor, während er zu ihr aufschloss.
»Was?«
»Die Stöpsel da in Ihrem Ohr.« Er deutete auf ihren Kopf. »Ist das ein MP3-Spieler oder wie die Dinger heißen? Wollte mir schon immer so eine Miniaturjukebox anschaffen. Zeigen Sie mal her!«
Yeremi konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. »Die Musik kommt aus meinem Handy. Habe mindestens einhundert Titel drauf.«
»Unglaublich! Das müssen Sie mir zeigen.« Der Professor blieb stehen und reckte ihr fordernd die Hand entgegen. Dabei machte er ein Gesicht wie ein Hi-Fi-Enthusiast.
Die Bemerkung über das musikbegabte Handy war nicht gelogen: Eine einziger langer Druck auf die richtige Taste, und das Gerät begann den ersten Titel abzuspielen. Um es jedoch McFarell vorführen zu können, würde sie die Verbindung mit Saraf kappen müssen. Anstatt endlich nachzugeben, strahlte der offenbar zum Audiophilen mutierte Professor vor freudiger Erwartung.
»Vielleicht ist Ohrenschmalz am Kopfhörer.«
»Das macht nichts. Ich will die Stöpsel ja nicht essen.«
Yeremi stieß einen Seufzer aus, griff in die Hosentasche und drückte die Taste zum Beenden des Telefonats. Während ihre Hand das Handy herauszog, startete sie die Abspielfunktion. McFarell nahm ihr das Gerät aus der Hand und hielt sich die plärrenden Miniaturlautsprecher an die Ohren. Er freute sich wie ein kleiner Junge.
Das haben Sie mir nicht umsonst angetan, Stan!, schoss es Yeremi durch den Sinn. Im nächsten Augenblick rief sie: »Ach, wo habe ich nur meinen Kopf! Bin sofort wieder da…«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief zu ihrer Bürotür zurück. Ohne auf McFarells Rufen zu achten, stürmte sie in den Raum, an den PC, markierte ihre
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