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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mit seltsam verschleiertem Blick in den Gang. Der Silbermann glitt an ihm vorüber, nur ein hellgrauer Schatten, den zu beachten nicht lohnte. Als Yeremi hinter Saraf an der Tür vorbeiging, warf sie einen raschen Blick hindurch. Fast wäre sie dabei gestolpert.
    Al Leary stand in dem hell erleuchteten Raum, wie immer korrekt gekleidet – schilfgrüner Anzug, Krawatte im passenden Ton –, und verstaute gerade die Quipus in einem großen, auf Rollen stehenden Aluminiumkasten. Schnell zwang Yeremi ihren Blick geradeaus. Hatte er zu ihr aufgesehen? Aus den Augenwinkeln kam es ihr so vor. Ihr Herz setzte zum Spurt an. Sie lief langsam weiter, lauschte. Keine Stimme rief nach ihr oder nach sonst irgendjemandem. Jeder in dem Keller tat, aufmerksamer als je zuvor, nur seine Arbeit, ohne sich ablenken zu lassen.
    Endlich erreichten die beiden den toten Winkel. Der Gang knickte an dieser Stelle – einem stilisierten Blitz nicht unähnlich – im rechten Winkel ab, um sogleich wieder geradeaus weiterzuführen. Die Architekten schienen beim Entwurf des Gebäudes ihre Vorliebe für unkonventionelle Formen ausgelebt zu haben.
    »Hier ist es«, flüsterte Yeremi. »Von jetzt an musst du allein klarkommen.«
    »Ich werde mein Bestes tun, Jerry. Pass auf dich auf.«
    Sie hob die Hand – ein wortloses »Bis später!« für die direkt über Sarafs Kopf hängende Kamera – und schob ihren Wagen weiter. Am Ende des Flurs öffnete sie eine schwere Metalltür, ging ohne Zögern hindurch und drehte sich noch einmal um. Saraf kam gerade aus einem Lagerraum, direkt gegenüber dem toten Winkel, wo er seinen Putzwagen geparkt hatte. Er schmiegte sich im blinden Fleck der Überwachungskamera an die Wand und lächelte ihr zu. Wenn in diesem Moment ein misstrauischer Kontrolleur am Monitor das spurlose Verschwinden des Raumpflegers bemerkt hatte, dann…
    Peng! Laut knallend war die Feuerschutztür vor ihrem Gesicht zugefallen.
    Das grelle Neonlicht schmerzte in den Augen. Der spiegelnde Linoleumboden und die kahlen, weiß getünchten Wände strahlten Kälte aus. Saraf Argyr kam sich fremd vor in diesen Höhlen. Er wünschte sich, Yeremi wäre bei ihm geblieben. Sie überschätzte bisweilen ihre Möglichkeiten als Lehrerin, schien nicht einmal zu merken, wer in ihrem Gespann der eigentliche Meister war, aber dennoch hatte sie ihm immer ein Gefühl der Wichtigkeit vermittelt, das ihm Kraft verlieh. Wie sehr sie doch Fama glich! Schade nur, wie blind sie gegenüber ihren eigenen Gaben war, weil der bloße Gedanke, von ihrem Schüler kontrolliert werden zu können, noch immer wie eine schwarze Binde auf ihren Augen lag. Aber auch das würde sich geben.
    »Das wär’s dann.« Die Worte hallten leise den Gang hinauf. Learys Stimme klang müde. Enttäuscht. Der Seelenarzt und seine Helfer tappten bei der Entschlüsselung der Azofa also noch im Dunkeln. Gut, dachte Saraf und lächelte. Weniger behagte ihm Al Learys Gegenwart. Der Mann wusste seine Gefühle zu hüten. Nur ab und zu blitzte ein wenig davon unter der Decke hervor, mit der er sie beschirmte.
    Eine der vier Rollen quietschte. Sie eierte unter der fahrbaren Aluminiumkiste hin und her, während einer der Posten sie den Gang hinaufschob. Saraf setzte seine schwarze Sonnenbrille auf. Jetzt brauchte er alle Sinne. Er spürte außer Leary noch die Gegenwart eines dritten Mannes. Als das Geräusch des Wagens ganz nahe war, griff er in die rechte Hosentasche, ging schnell in die Knie und ließ seine Hand für einen winzigen Augenblick um die Ecke schnellen.
    Eben noch hatten die drei Männer sorgenvoll in die silberne Kiste gestarrt, als fürchteten sie jeden Moment eine überraschende Flucht der Knotenschnüre, doch jetzt starrten sie auf den kleinen, leuchtend roten Gummiball, der ihnen aus dem Flur entgegenkam. Sofort waren sie von der kullernden Kugel begeistert.
    Sie rollte geradewegs unter den Quipu-Transporter, kam dahinter wieder zum Vorschein und machte sich auf, den langen Flur bis zum Ende zu durchmessen. Die Männer nahmen, gebannt von diesem bezaubernden Anblick, sofort die Verfolgung auf.
    Wer hatte je so etwas Schönes gesehen! Diese makellose Form – vollkommen rund. Die lebendige Farbe – rot wie Blut. Diese anmutige Bewegung – als kullerte sie den sanft geschwungenen Rücken einer Venus herab. Eine unstillbare Neugier bemächtigte sich der drei Bewunderer des Kleinods. Der Ball durfte ihnen nicht verloren gehen. Sie wollten mehr über ihn erfahren, alle seine Geheimnisse

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