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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ihm nur darum, seinen Auftraggebern eine mächtige Allzweckwaffe an die Hand zu geben, oder existierten bereits konkrete Einsatzpläne?
    Yeremi hob den Kopf, um nach dem Glas zu suchen, das irgendwo auf ihrem Nachttisch stehen musste. Dabei bemerkte sie unter der Leselampe das zusammengefaltete Blatt Papier, das Sandra ihr am Mittag zugesteckt hatte. Sie war noch nicht dazu gekommen, sich näher damit zu befassen. Jetzt angelte sie es sich vom Schränkchen, drehte sich auf den Rücken und erschauerte. Es handelte sich um die Kopie eines Zeitungsartikels, der am 30. September 2001 im San Francisco Chronicle erschienen war. Schon der Aufmacher bereitete ihr eine Gänsehaut.
     
    ERSCHRECKENDE PARALLELEN
    ZU REVEREND JIM JONES
    Brief des Flugzeugentführers enthielt ähnliche Botschaft
    über Selbstmord
     
    In dem Bericht ging es um die muslimischen Fundamentalisten, die am 11. September 2001 Verkehrsflugzeuge entführt und ins New Yorker World Trade Center gesteuert hatten und dabei selbst ums Leben gekommen waren. Bei der anschließenden Untersuchung hätten sich erstaunliche Parallelen zwischen Jim Jones und dem Topterroristen Osama bin Laden gezeigt: Beide waren Anführer, erklärten sich zu Propheten Gottes, forderten revolutionäre politische Veränderungen, verfluchten den Kapitalismus und flohen unter Druck mit ihrer »fanatischen Armee von Anhängern in ein isoliertes, verarmtes Land. Einmal dort, schmiedeten sie einen unvorstellbaren Akt des Massen- und Selbstmordes – alles im Namen Gottes«.
    Doch die Übereinstimmungen zwischen dem Terroristen- und dem Kultführer erschöpften sich damit noch lange nicht. Was der Chronicle nun anführte, ließ Yeremi zu Eis erstarren. Im dunklen Verließ ihres Gedächtnisses wurden weitere Ketten gesprengt, und dadurch kamen Erinnerungen frei, die eine schmerzhafte Konfrontation heraufbeschworen. Der Artikel bezog sich auf das so genannte Death Tape, also jenen Tonbandmitschnitt aus der letzten Weißen Nacht, der den flammenden Aufruf von Jim Jones zum kollektiven Selbstmord enthielt. Dieser Aufruf, schrieb das Blatt, weise verblüffende Parallelen zu Osama bin Ladens suggestiven Parolen auf. Der saudische Anführer der Extremisten ließ durch Mohammed al-Amir Awad al-Sajjid Atta, einen der Kommandanten der Terroraktionen, verbreiten: »Jeder hasst den Tod, fürchtet den Tod. Aber nur solche Gläubigen, die vom Leben nach dem Tod und der Belohnung nach dem Tod wissen, werden jene sein, die den Tod suchen… Ihr werdet in das Paradies eingehen.«
    Bei Jim Jones klang die Botschaft verblüffend ähnlich: »Es ist der Wille des Souveräns, dass an uns dieses geschieht… Habt keine Angst zu sterben… Da ist nichts, das sterben könnte. Es ist nur das Hinübergehen auf eine andere Ebene.« Beide Führer beteuerten ihren Jüngern, sie würden normalem Selbstmord nicht zustimmen, er sei etwas, das die Glaubenslehren – sowohl des Christentums wie auch des Islam – verletze. Bin Laden versprach seinen Märtyrern, in das Paradies, »in das glücklichste, das unvergängliche Leben einzugehen«. Jones stellte seiner Gefolgschaft dieselben Wonnen in Aussicht. Beide Führer hätten es geschafft, ihre Anhänger zur Selbstaufgabe zu verleiten, behauptete Don Lattin, der Autor des Artikels.
    Yeremi wusste zwar um die Unzulänglichkeit von Jones’ suggestiver Kraft – zahlreiche Angehörige des Volkstempels waren ermordet worden –, aber im Grundsatz hatte Sandras Kollege Recht.
    Weiter erklärte er, Jim Jones habe den Tonbandmitschnitt der Weißen Nacht persönlich angeordnet, und verwies auf die Schreie der von ihren Müttern getöteten Kinder, vor deren Hintergrund der Reverend erklärte: »Es führt euch nur zur Ruhe… Der Tod ist eine Million Mal besser als zehn weitere Tage dieses Lebens.« Und zum Schluss habe Jones wiederholt: »Wir können dem Selbstmord nicht zustimmen. «
    Yeremi glaubte die Schreie der Kleinen wieder zu hören. Unweigerlich musste sie an John denken, ihren Spielkameraden, der von Marcy »Mutter« Jones persönlich in den Tod begleitet worden war. Sie ließ das Blatt aus den Fingern gleiten und schlang den Morgenmantel enger um sich, weil das Frösteln wieder zunahm. Zwar konnte sie sich längst nicht an jede Einzelheit jener schrecklichen Nacht erinnern – schon allein deshalb, weil sie Reverend Jones’ Ansprache nur zum Teil mitverfolgt hatte –, aber die Reminiszenzen in dem Artikel reichten aus, um sie tief zu erschüttern. Hätte sie ihn nur

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