0677 - Das Haus der Hyänen
Dass der Sensenmann Öleg besuchen würde, hatte er geahnt. Seit zwei Tagen schon lebte er in dieser permanenten Angst. Nicht dass er unbedingt Angst vor dem Sterben gehabt hätte, nein, er machte sich Sorgen um die Art, wie er ums Leben kommen würde.
Jana, seine Frau, war gegangen. Zum Abschied hatte sie ihm noch einmal über beide Wangen gestrichen. Genauso, wie sie es seit ihrer Heirat immer getan hatte. Es war eine Geste gewesen, die ihm die Tränen in die Augen trieb, ein Abschied für immer. Das aber hatte er nur für sich behalten, obwohl Oleg davon ausgehen musste, dass Jana etwas ahnte. Sie gehörte zu den Frauen, die einen sechsten Sinn besaßen. Doch sie war gegangen, wortlos, um es ihm nicht noch schwerer zu machen.
Im Winter gehörte der Friedhof ihm. Besucher kamen nur, wenn es dringend nötig war. Sie erschienen zu den Beerdigungen und verschwanden so rasch wie möglich.
Im Dunkeln ließ sich im Winter erst recht keiner blicken. Da wirkte das Gelände unheimlich wie eine erstarrte Totenlandschaft.
Oleg Jaschin besaß nichts, womit er sich hätte verteidigen können. Kein Gewehr, keinen Revolver; er würde seinem Schicksal mit bloßen Händen entgegentreten.
Schaudernd erinnerte er sich daran, wer in diesem Sarg gelegen hatte.
Allein dieses Wissen hatte ihn ganz oben auf die Todesliste gestellt. Er wusste auch, dass Flucht keinen Sinn hatte, sie hätten ihn immer wieder zu sich geholt. Da war es schon besser, wenn er auf seinem Gelände, dem Friedhof, starb.
Es gab keinen mehr, der den Friedhof bearbeitete. Das Geld fehlte, und so sah er aus wie ein knorriger Dschungel, über den sich eine bleiche Eisschicht gelegt hatte.
Nicht einmal eine Laterne spendete fauf diesem alten Totenacker Licht.
Wer in der Nacht etwas sehen wollte, musste sich mit Kerzen behelfen.
Einige davon steckten in der rechten Tasche des Fellmantels, den der Totengräber trug.
Er wanderte in die Nacht hinein und damit auch in das Reich der Toten.
Hier war niemand, der ihn ansprach, keine Stimme aus dem Grab, die Leichen waren stumm und moderten vor sich hin.
Wege konnte man die Schneisen nicht nennen, die das Gelände durchschnitten. Es waren eher Trampelpfade, die in der warmen Jahreszeit zuwucherten. Doch jetzt herrschte Frost, und unter Olegs Tritten zerknackten Zweige und Äste. Oleg bemühte sich nicht, leise zu sein, wer ihn finden wollte, der fand ihn. Die Kälte war schlimm, ließ sich jedoch ertragen, denn es wehte in dieser Nacht kein Wind.
Oleg Jaschin schritt weiter. Leicht gebeugt, wie immer. Es war eben sein Gang, daran konnte man ihn erkennen. Er visierte ein bestimmtes Ziel an, ein noch offenes Grab, das er eigentlich hätte zuschütten sollen.
Dazu würde es wohl nicht mehr kommen. Seine verfluchten Ahnungen verdichteten sich immer stärker zu einer besonders grausamen Gewissheit. Eis klebte in seinem grauen Bart. Die Klappen der Fellmütze hatte er nach unten gestreift, damit seine Ohren geschützt waren. Selbst durch diesen Schutz drang die Kälte. Sie war fast wie eine Säure, die auch sein Gesicht nicht ausließ. Jede Furche, jede Falte schien mit einer Eisschicht ausgefüllt zu sein. Selbst in seinen Augenwinkeln spürte er den Druck, und er glaubte, ein leises Knistern zu hören.
Oleg Jaschin ging durch das dicht bewachsene Gelände, wo mächtige Sträucher ihre Zweige wie Arme hochreckten, als wollten sie ihn vor den außerhalb lauernden Gefahren schützen.
Viele Gräber waren nicht mehr als solche zu erkennen. Sie wirkten wie planiert, plattgewalzt. Niemand war da, der sich um sie kümmerte, denn Besucher kamen kaum. Wenn, dann betraten sie den Teil des Friedhofs, wo die neueren Gräber lagen.
Ein weiter Himmel schaute auf den Flecken Erde nieder. Ein Tuch. Es spannte sich von Horizont zu Horizont. Seine Farbskala schimmerte in mehreren Nuancen zwischen Blau und Grau, hervorgerufen durch das bleiche Licht des Mondes, das sich geheimnisvoll auf die Erde legte und nicht die Spur von Wärme besaß.
Verschwommen konnte er den Erdtrabanten erkennen, weil vor ihm eine dünne Wolkenschicht lag, die das Heer der Sterne nur ahnen ließ und sie für den Betrachter zu Staub filterte.
Die Gräber schwiegen!
Zeugen langer Jahre. Manche nicht mehr als solche zu erkennen.
Andere wiederum mit schiefen Grabsteinen geschmückt, die sich mit letzter Kraft in den rissigen frostharten Boden krallten.
In den Tagen zuvor hatte es den nächtlichen Nebel gegeben, der war nun nicht mehr vorhanden. Selbst weiche
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