Der silberne Sinn
den verschiedenen Anklagepunkten, die tags zuvor der ABC-Moderator verlesen hatte. Yeremi sagte nur »Schmierenkampagne« und legte auf.
Sie schaltete das Fernsehgerät ein. Die Frühstückssendung beschäftigte sich mit den verbrecherischen Umtrieben von Professor Bellman. Vor kurzem hatten sich die Berichterstatter noch in ihren Lobeshymnen über die Entdeckerin des Silbernen Volkes gegenseitig übertroffen, sie als Pionierin der Wissenschaft gefeiert. Jetzt wurde die Heldin systematisch demontiert.
Etwa zehn Minuten nach dem CNN-Anruf meldete sich das Hotelmanagement durch dezentes Klopfen an der Tür. Yeremi, inzwischen daran gewöhnt, empfing den stellvertretenden Hotelmanager im Morgenrock. Der respektable Endvierziger hielt eine kurze, aber ergreifende Ansprache: Im Foyer hielte sich eine größere Anzahl von Reportern auf, die das dringende Bedürfnis verspürten, Professor Bellman zu interviewen. Angesichts der jüngsten Berichte in den Medien wäre ihr die Hotelleitung sehr dankbar, wenn sie sich eine andere Unterkunft suchen könnte. Möglichst schnell! Yeremi überlegte nicht lange. Sie versprach, das gastfreundliche Etablissement umgehend zu verlassen und niemals wiederzukehren. Das Management kam ihr insofern entgegen, als es eine diskrete Abreise zusicherte.
Etwa eine halbe Stunde später stieg Yeremi – ohne gefrühstückt zu haben – am Lieferanteneingang in einen hoteleigenen Kleinbus und ließ sich zum Parkplatz ihres Daihatsu auf die andere Straßenseite fahren. Ohne von der Pressemeute bemerkt zu werden, verließ sie San Francisco.
ZWIESPÄLTIGKEITEN
San Francisco (Kalifornien, USA)
4. Januar 2006
6.24 Uhr
Saraf Argyr verspürte großen Hunger. Seit zwei Tagen streifte er nun schon durch die Stadt, immer auf der Hut vor der Polizei und auf der Suche nach etwas Essbarem. Das Überleben in dieser ihm feindlich gesinnten Welt war schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Mehrere Versuche, einen Hund zu erjagen, waren am harschen Protest der Besitzer gescheitert. Er hätte Yeremi um etwas Geld bitten sollen, bevor er das Weite suchte.
Die erste Nacht hatte er in einer Seitenstraße zwischen einer Anzahl Mülltonnen verbracht, in Gesellschaft eines reichlich hageren und nicht besonders angenehm riechenden Obdachlosen, der sich »Mr T-Bone« nannte und aus seiner Schwäche für alkoholische Getränke keinen Hehl machte. Zum Abschied schenkte Saraf ihm den unablässig musizierenden Sprechknochen, den Yeremi als Krönung menschlicher Kommunikation betrachtete. Danach fühlte er sich einerseits befreit, andererseits auch sehr einsam.
Am Dienstag gelang es Saraf, die Hauptzentrale von Stheno Industries im Finanzdistrikt ausfindig zu machen. Er klopfte sich, so gut es ging, den Staub aus den Kleidern und betrat das marmorglänzende Foyer des Gebäudes. Als er die auf Freundlichkeit abgerichtete Empfangsdame darum bat, Mr Jefferson Flatstone sprechen zu dürfen, erlitt sie fast einen Herzanfall, zeigte ansonsten aber keinerlei Entgegenkommen. Mr Flatstone weile im Augenblick nicht im Gebäude. Außerdem empfange er keinen Besuch. Die wenigen Menschen, die er in das Allerheiligste im sechsundvierzigsten Stock lasse, würden von seinen Beratern abgeholt.
Die mitleidvollen »Berater« hatte Saraf ja bereits kennen gelernt.
Ob man nicht warten könne, wagte er noch zu fragen. Das wäre ein aussichtsloses Unterfangen, antwortete die Empfangsdame kühl. Manchmal dauere es Tage, bis Mr Flatstone wieder hereinschneie. Und, fügte sie hinzu, nur damit das klar sei: Ihm aufzulauern habe keinen Zweck, denn der Chef von Stheno Industries verfüge selbstverständlich über einen eigenen Fahrstuhl, der ihn direkt von der eigenen Tiefgarage in seine eigene Büroetage hieve, von wo aus er auf eigenen Telefonleitungen mit der ganzen Welt spreche. Saraf fragte, ob Mr Jefferson Flatstone sich diese demnächst auch anzueignen beabsichtige, was von der Empfangsdame mit Unverständnis quittiert wurde. Hierauf bedankte sich Saraf freundlich und verließ die Empfangshalle.
Die Einfahrt zu Flatstones privater Tiefgarage zu finden bereitete ihm wenig Mühe. Im Finanzdistrikt standen jedoch überall uniformierte und bewaffnete Sicherheitsleute mit grimmigen Gesichtern vor den Gebäuden. Es war daher nicht ganz einfach, das Stheno Building zu observieren, ohne das Misstrauen der Posten zu erregen. Notgedrungen bediente sich Saraf einer bewährten Methode, und die Wachen gewannen Interesse an bisher
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