Der silberne Sinn
Zimmertür und folgte Tailor barfuß quer über den Gang. An dessen Ende entdeckte sie einen breitschultrigen Mann im dunkelgrauen Anzug, der zu ihnen herüberblickte. Aus seinem Ohr ragte ein gedrehtes Kabel heraus. Er war Anfang vierzig, also vermutlich ein Vorgängermodell jener schneidigen Leibwächter, die Leary mitgebracht hatte. Mit versteinerter Miene nickte er den beiden Frauen zu.
Endlich hatte die Senatorin ihr Zimmer geöffnet, und Yeremi trat ein. Wie unter Hypnose stand sie auf dem bunten Plüschteppich, unfähig, etwas zu sagen. Dabei schwirrten ihr etliche Fragen durch den Kopf.
Die Senatorin umrundete Yeremi wie zur Begutachtung einer eigenwilligen Plastik. »Ehrlich gesagt, ich hätte Sie nicht wiedererkannt.«
Yeremi brachte noch immer keinen Laut heraus.
Tailor lächelte. »Sie sehen furchtbar aus, meine Liebe.«
Endlich fand Yeremi die Sprache wieder. »Das sagen heute alle zu mir.«
»Haben Sie wegen… ihm geweint?«
Yeremi nickte schniefend.
Tailor öffnete ihr schwarzes Handtäschchen und förderte ein Kleenex zu Tage, das sie Yeremi anbot. »Mit den Männern ist es immer dasselbe: Erst verdrehen Sie uns den Kopf, und dann machen sie sich aus dem Staub.«
»Sie wissen schon…?«
»Ganz San Francisco weiß es. Seit Ihrer grandiosen Pressekonferenz heute Mittag ist der Silbermann in aller Munde. Setzen Sie sich doch, meine Liebe. Wollen wir die Minibar plündern?«
Yeremi kam sich vor wie ein kleines Mädchen, das sich nicht traute, den Mund aufzumachen. »Tonicwater« war alles, was sie flüstern konnte.
Tailor goss ihr eine Limonade ein und genehmigte sich selbst einen Jack Daniels. Sie reichte Yeremi das Glas, und beide nahmen an einem kleinen Tisch in Sesseln Platz.
»Sie fragen sich vermutlich, was mein Überfall hier bei Ihnen soll.«
Yeremi lächelte schwach, nippte an ihrem Tonic und erwiderte: »Offen gestanden, ja. Ich hatte mit Engelszungen auf…«
»Mrs Splendour? Sie genießen mein Mitgefühl. Thelma ist schwer zu überwinden.«
»Sie ist ein Drache.«
Tailor lachte. »Sie kennen Thelmas Spitznamen also schon! Wissen Sie, als Senatorin bekomme ich tausend Anrufe am Tag. Da brauche ich einfach jemanden, der ein wenig vorsortiert. Niemand kann das so gut wie Thelma. Sie hat noch eine Reihe anderer Qualitäten. Zum Beispiel trägt sie die Namen aller Anrufer in eine Datenbank ein. Als ich heute Mittag einen Blick hineinwarf, habe ich Ihren Namen entdeckt.«
»Soll das heißen…?«
Die Fröhlichkeit auf Tailors Gesicht verflog. »Denken Sie nicht, ich hätte den Schrecken von Port Kaituma verdrängt. Das ist nicht meine Art, mit unangenehmen Erfahrungen umzugehen. Ich habe mich Hunderte von Malen gefragt, ob wir im November 1978 etwas hätten besser machen oder ob die ganze Tragödie hätte verhindert werden können. Minute für Minute bin ich diesen verfluchten Tag immer wieder in Gedanken durchgegangen. Und zu dieser Erinnerung gehören auch Sie, Professor.«
»Mir wäre wohler, wenn Sie mich Yeremi nennen könnten.«
Die Miene der Senatorin hellte sich wieder auf. »Und ich bin Jackie. Ihre Mutter nannte Sie Jerry, nicht wahr?«
»Sogar daran können Sie sich noch erinnern?«, staunte Yeremi.
»Sie gehören einer prominenten Familie an. Ihr Großvater hat damals einiges angestellt, um seine Enkelin aus den Medien herauszuhalten. Und dann…« Tailor wirkte plötzlich unsicher.
»Sie machen sich Vorwürfe, weil Mama Sie darum gebeten hat, uns aus Jonestown herauszuschaffen, und Sie uns auf später vertröstet haben.«
Die Senatorin nickte mit unglücklichem Gesicht. »Ich bin Ihnen etwas schuldig, Yeremi. Ihnen und allen Menschen, die damals sterben mussten. Außerdem haben Sie mich durch Ihre Pressekonferenz gehörig unter Zugzwang gesetzt. Kurz darauf schrillten bei uns in der Golden Gate Avenue die Telefone. Im Moment kann Thelma die Pressemeute noch abwehren. Alle wollen wissen, ob ich wie Mr Frielander bei den Angreifern eine Diamantformation bemerkt habe.«
»Und? Haben Sie?«
Tailor nickte ernst. »Ich werde die kaltblütige Zielstrebigkeit nie vergessen, mit der die Killertruppe vorgerückt ist. Vielleicht kann ich Ihnen für Ihr Puzzle ein wichtiges Teil liefern.«
Schlagartig fiel alle Erschöpfung von Yeremi ab. »Was wissen Sie über Jonestown?«
Jackie Tailor lehnte sich in ihrem Sessel zurück, nahm einen Schluck Whiskey und malte sodann ein Bild der Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Sicht von Congressman Leo Joseph
Weitere Kostenlose Bücher