Der silberne Sinn
Wenn er sich der Polizei stellte, würde Flatstone ihn vermutlich unauffällig verschwinden lassen. Seiner treuen Beschützerin wäre damit kaum gedient. Saraf beschloss, einen anderen Weg zu gehen.
UNKLARE FRONTEN
San Francisco (Kalifornien, USA)
4. Januar 2006
9.46 Uhr
Damals, kurz nach der Sache mit Al Leary, war es ihr ähnlich schlecht gegangen, wenn auch auf eine gänzlich andere Weise. Yeremi hatte in den vergangenen zwei Tagen so viele Tränen vergossen, dass sie darin ein Vollbad hätte nehmen können. Ohne den Beistand ihrer Großeltern wäre sie in dem Blockhaus am Coyote Creek vermutlich längst ausgetrocknet.
Sie saß auf dem Büffelfell im großen Kaminzimmer, hielt ein riesiges Sofakissen eng umschlungen und starrte auf die Mattscheibe. Stündlich wurden neue Verdächtigungen und Spekulationen über sie in Umlauf gebracht. Anscheinend legte sich Leary für seinen Chef mächtig ins Zeug.
Die Ermahnungen Fredrikas, doch den Fernseher wenigstens für kurze Zeit auszuschalten und bei einem Waldspaziergang neue Kraft zu tanken, lehnte Yeremi kategorisch ab. Sie musste Wache halten, vor dem Bildschirm ausharren – vielleicht kam ja endlich eine Nachricht von Saraf.
Auf ihre Telefonanrufe hatte er nicht reagiert. Als dann gestern Morgen doch eine Verbindung zu Stande kam, wallten euphorische Gefühle in ihr auf – ungefähr eine Sekunde lang. Dann folgte ein kalter Schauer. Auf dem winzigen Bildschirm des Handys erschien das schmutzige Gesicht eines an Zähnen armen, jedoch an Bartstoppeln umso reicheren Mannes.
»Wer sind Sie?«, fragte Yeremi.
»Mr T-Bone«, lallte der Handybesitzer und grinste lückenhaft.
»Wo haben Sie das Telefon her?«
»Von dem blonden Riesen.«
Yeremi erschrak. War Saraf etwa einem Raubmörder zum Opfer gefallen. »Ich möchte ihn sofort sprechen«, sagte sie energisch.
»G-geht leider nicht«, stotterte Mr T-Bone. »Ist schon weitergezogen.«
Yeremi atmete auf. »Hat er Ihnen gesagt, wohin?«
»Wollte wissen, wo das Sch…« – vor dem Gesicht von Mr T-Bone erschien vorübergehend eine flache Flasche mit bräunlichem Inhalt –, »das Schtenohaus ist.«
»Sie meinen das Stheno Building?«
»Sag ich doch.«
Sie hätte es sich denken können! »Sonst können Sie mir nichts über den blonden Mann sagen?«
»Doch. Is’ ‘n netter Kerl.«
»Ich danke Ihnen, Mr T-Bone.«
»Nichts für ungut, Ma’am. Ich würd mich von Ihnen gern mal zum Essen einladen lassen.«
»Verkaufen Sie mein Handy, und gehen Sie von dem Geld in ein Restaurant. Guten Tag, Mr T-Bone.« Yeremi unterbrach die Verbindung.
Nach dem Gespräch hatte sie mit Sandra Schroeder Kontakt aufgenommen. In der Schwarzen Kammer schilderte Yeremi ihre Sorge: Saraf lauere Flatstone irgendwo in der Nähe seines Hauptquartiers auf. Sandra antwortete wie erwartet: Sie habe den Stheno-Chef schon mindestens ein Dutzend Mal um ein Interview gebeten und wenigstens ebenso viele abschlägige Antworten erhalten. Ihren Kollegen sei es kaum besser ergangen. Nein, Saraf könne die Stheno-Festung im Finanzdistrikt unmöglich stürmen, und falls doch, sei es fraglich, ob er Flatstone in seinem Büro antreffe. Sie werde sich sofort ins Auto setzen und nach »unserem Sorgenkind« suchen.
Seitdem waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen. Dreimal hatte Sandra Bericht erstattet: Von Saraf fehle jede Spur. Und nun platzte plötzlich, mitten in die Berichterstattung über die ruchlose Berkeley-Anthropologin, eine aufregende Nachricht.
»Soeben erreicht uns eine Meldung vom San Francisco Chronicle «, verkündete der Moderator des Frühstücksfernsehens. Sarafs Bild erschien auf der Mattscheibe.
»Dies ist Saraf Argyr, der Silberne Mann«, erläuterte der solariumgebräunte Schönling, der schon den ganzen Morgen über verzweifelt versucht hatte, komisch zu sein. »Vor wenigen Minuten erst hat er sich in den Redaktionsräumen der Tageszeitung den Behörden gestellt. Professor Stanley A. McFarell, Dekan der Anthropologischen Fakultät der Universität von Kalifornien in Berkeley – leider liegt uns kein Archivbild des Wissenschaftlers vor –, gab uns am Telefon folgende Erklärung: Mr Argyr werde in Kürze eine Unterkunft auf dem Campus beziehen und sich anschließend freiwillig für einige Untersuchungen bereithalten. Ein Team von Forschern werde dabei der Frage auf den Grund gehen, ob seine empathische Telepathie…«
Während der Adonis sich noch über Sarafs Silbernen Sinn ausbreitete, war
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