Der silberne Sinn
Hausordnung aufgezwungene Prohibition wurde durch laute Musik kompensiert, ständig plärrten irgendwo Lautsprecher. Die Bewohner waren überwiegend Xicanos, aus Mexiko stammende Studenten. Selbst Yeremi war mütterlicherseits eine Xicana, was ihrer Unterbringung in der Casa Joaquin Murrieta einen Hauch von Normalität verlieh. Aber nichts war normal.
Yeremi und ihr Schützling konnten sich nicht frei bewegen, wenngleich die übrigen Hausbewohner davon nichts bemerkten. Aus Furcht vor Sarafs Silbernem Sinn wurde die Überwachung nämlich nicht allein Menschen, sondern vor allem einer kleinen Armada elektronischer Spezialgeräte anvertraut. Kameras, Bewegungsmelder und Personenverfolgungssysteme waren gegen den Fühlsinn immun.
Der Donnerstag stand ganz im Zeichen medizinischer Untersuchungen. Am Morgen hielt ein Van mit verdunkelten Scheiben vor dem Fachwerkhaus und fuhr das Paar ins Tang Center, in dem auch der Gesundheitsdienst der Universität untergebracht war. Saraf und Yeremi wurden in ein schmuckloses Sprechzimmer geführt, in dem kurz darauf ein junger Arzt chinesischer Herkunft erschien. Er wirkte angespannt, aber nicht unfreundlich. Nachdem er beiden die Hand gedrückt, sich als Doktor Wang vorgestellt, ihnen einen Stuhl vor seinem Schreibtisch angeboten und selbst auf der anderen Seite Platz genommen hatte, richtete er zuerst das Wort an Yeremi.
»Professor Bellman, ich sehe aus meinen Unterlagen, dass Sie die Untersuchungen an Mr Argyr begleiten wollen.«
»Sein vollständiger Name lautet Saraf Argyr, Doktor Wang. Argyr ist kein Familienname«, erwiderte Yeremi gereizt.
»Ja, natürlich«, erwiderte der Arzt. »Worauf ich hinauswollte: Professor McFarell bat mich darum – und das trifft wohl auf alle Kollegen zu, die an diesem Projekt beteiligt sind –, in die Tests eine Referenzperson einzubeziehen.«
Yeremis Mund war leicht geöffnet. Sie blickte den Mediziner an, als habe er ihr gerade einen unsittlichen Antrag gemacht.
»Ist Ihnen klar, worum ich Sie bitte?«, erkundigte sich Doktor Wang.
»Sie wollen nicht nur Saraf Argyr zerschneiden, sondern synchron eine zweite Person.«
Der Arzt schob seine runde Chrombrille zurecht und lächelte nachsichtig. »Offen gestanden habe ich nichts von einer Sektion in meinen Unterlagen gefunden. Ich will lediglich wissen, ob Mr Argyr gesund ist, einige anatomische Daten erfassen und seine Belastbarkeit erproben.«
»Jetzt haben Sie sich verraten. Sie wollen ihn in ein Hamsterrad sperren und ihn zu Tode hetzen.«
»Die Astronauten der Internationalen Raumstation ISS müssen härtere Tests absolvieren, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Also, was ist?«
»Was soll sein?«
»Machen Sie mit? Helfen Sie uns, einen direkten Vergleich zwischen Mr Argyr und einem – lassen Sie es mich so ausdrücken – ›ganz normalen Zivilisationsgeschädigten Homo sapiens‹ herauszufinden? Sind Sie bereit, Professor Bellman, als Referenzperson die Untersuchungen zu begleiten?«
»Ich?!«
»Wieso nicht? Der Dekan sagte, Sie würden ohnehin nicht von Mr Argyrs Seite weichen. Wenn Sie also schon da sind – was spricht dagegen?«
Yeremi sah verwirrt erst in Doktor Wangs, dann in Sarafs Gesicht. Die Miene des Silbermannes war ausdruckslos. Was ging in seinem Kopf vor? »Wie denkst du darüber?«, fragte sie ihn freiheraus.
»Doktor Wang ist sehr daran gelegen, dich für diese Tests zu gewinnen«, antwortete Saraf beinahe heiter.
Wieder blickte Yeremi über den Schreibtisch hinweg in das Gesicht des Arztes, der gerade umständlich sein Gewicht auf dem Stuhl verlagerte. Seine Nervosität war unübersehbar. Warum wollte er unbedingt sie als Referenzperson gewinnen? »Also gut«, sagte Yeremi zögernd und dachte: Wir sind sowieso bald hier weg.
»Schön.« Doktor Wang sah erleichtert aus und erhob sich von seinem Stuhl. »Darf ich Sie und Mr Argyr jetzt in das Nebenzimmer bitten?« Saraf stand ebenfalls auf. Yeremi blieb sitzen.
»Ist noch was?«, fragte der Doktor.
Yeremi deutete auf Saraf und antwortete unerbittlich: »Ja. Ich verlange, dass Sie diesen Mann mit großem Respekt behandeln. Und merken Sie sich seinen Namen. Er heißt Saraf Argyr.«
Ständig waren sie unter Beobachtung, entweder direkt oder durch Kameras. Big Brother versteckte sich nicht einmal. Offensichtlich sollten Saraf und Yeremi wissen, wie sinnlos jeder Fluchtversuch wäre. Da standen Wagen mit dunkel getönten Scheiben am Straßenrand, Polizisten mit dunkel getönten Brillen an den
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