Der silberne Sinn
erwartungsvolles Gesicht.
»Tod«, sagte sie und korrigierte sich sogleich: »Ein Totenschädel.«
Obwohl der Wissenschaftler ihre Aussage zu diesem Zeitpunkt weder als richtig noch als falsch bewerten durfte, konnte Yeremi den Volltreffer spüren. Nie zuvor hatte sie so etwas erlebt, jedenfalls nicht bewusst. Ihr Inneres war plötzlich ein Resonanzkörper, in dem die Gefühle Sarafs widerhallten, sehr leise nur, ähnlich dem Rauschen, das man in einer Muschel hört. Bei manchen Bildern vernahm sie gar nichts. Andere dagegen besaßen einen fast unverwechselbaren Klang. Selten – erst jetzt wurde sich Yeremi dieses Umstandes bewusst – empfindet der Mensch nämlich ein reines, unverfälschtes Gefühl. Meistens verspürt er zugleich mehrere Emotionen. Jede Besetzung dieses Orchesters besitzt einen einzigartigen Charakter, der Bilder entstehen lässt – ebenso wie ein Musikstück in der Fantasie des Zuhörers einen Flusslauf, das Gezwitscher eines Vogels oder das Tapsen eines Bären erschaffen kann.
Am Ende des Tests lag Yeremi nur zwei Treffer hinter Saraf. Sie war erschüttert. Die Intensität ihrer Wahrnehmung konnte nur eines bedeuten: Saraf hatte in ihr Gefühlsbuch geschrieben. Yeremi fasste sich an den Kopf und verzog das Gesicht.
»Mein Schädel brummt. Ich glaube, ich bekomme Migräne.«
Der Versuchsleiter blickte fragend zu dem Spiegel, hinter dem Saraf das Versteck Learys entdeckt hatte. Aus einem Lautsprecher ertönte die Stimme des Stheno-Psychologen. Sie klang euphorisch. »Machen wir für diese Woche Schluss. Wir haben genug geschafft.«
Die Experimente waren in der vorletzten Etage der Warren Hall durchgeführt worden. Insgesamt verfügte der von Rasenflächen und hohen Bäumen umgebene Bau im Nordwesten des Campus über sechs Stockwerke. Al Leary begleitete das Paar zum Fahrstuhl.
»Keine Tricks!«, warnte er die beiden. »Ich habe die zuständigen Bewacher informiert. Sie erwarten euch unten. Über den Keller kann man übrigens nicht fliehen.« Leary grinste.
Yeremis Gesicht blieb ausdruckslos. »Hat der CIA eigentlich nichts Besseres zu tun, als Probanden zu eskortieren?«
»Das kommt auf die VP an. Also, wir sehen uns spätestens am Montag.«
Yeremi und Saraf betraten den Fahrstuhl. Leary beugte sich hinein und drückte die Taste für das Erdgeschoss, dann winkte er ihnen zum Abschied zu.
»VP?«, fragte Saraf, nachdem sich die Türen geschlossen hatten.
»Versuchspersonen«, erklärte Yeremi das Kürzel und kam sofort zur Sache. »Du willst fliehen, nicht wahr?«
Saraf nickte. »Ich warte nur auf eine passende Gelegenheit.«
»Und wie sähe die aus?«
»Du wirst es merken, wenn es so weit ist.«
»Etwa wie eben, als du mir deine Gefühle aufgedrängt hast?«, fragte Yeremi gereizt.
Saraf erwiderte ernst ihren stechenden Blick. »Ich habe keinen Augenblick lang auf deinen Gefühlen gespielt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Solltest du aber, Jerry, denn gerade hast du Al Leary gezeigt, was er seit Wochen von dir zu erhalten hoffte.«
Für Yeremi bedeutete das kurze, vermutlich unbelauschte Gespräch im Fahrstuhl einen Schock. Was hatte Saraf damit andeuten wollen? Es ging doch um ihn, um den Silbermann. Sein Silberner Sinn sollte erforscht werden. Er war gejagt worden. Warum nur wurde sie das Gefühl nicht los, dass an dieser Erklärung etwas nicht stimmte.
Das Wochenende bedeutete weder für die Bewacher noch für die Bewachten eine Ruhepause, weil die Medien immer stärkeren Druck ausübten. Vor der Casa Joaquin Murrieta tummelten sich die Kamerateams. Fotografen fotografierten von Leitern, Korrespondenten »korrespondierten« von kleinen Kisten aus – alles nur, um das Dachgeschoss oder sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Von Geheimhaltung konnte längst keine Rede mehr sein.
Mehrmals waren Yeremi und Saraf am Samstag vor die Kameras getreten, obwohl McFarell anschließend jedes Mal anrief und seinen Unmut über diese Art der Öffentlichkeitsarbeit ausdrückte. Immerhin galt es für Yeremi, ihren Ruf zu retten. Die Schmutzkampagne der letzten Tage musste vergessen gemacht, für Saraf und sie selbst ein sympathisches Klima geschaffen werden. Nur so konnte sie sich die Plattform schaffen, auf der sie zur gegebenen Zeit den Gegenangriff starten würde. Doch noch war es nicht so weit.
Gegen sieben Uhr abends legten die beiden Öffentlichkeitsarbeiter eine Ruhepause ein. Wenige Minuten vorher hatte das Time Magazine angerufen. Man wolle den Silbernen Mann aufs Titelblatt
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