Der silberne Sinn
einem fremden Stern die Erde nicht auch viele Male umrunden und bewundern, bevor er sich zu ihrer Erkundung aufmacht? Nichts anderes tue ich.«
»Bei allem Respekt, Professor Chidambarampillai, aber ich bin auch Wissenschaftlerin, und das ist…«
Der Neurologe riss die Hand hoch. »Sagen Sie es nicht! Sie könnten es später bereuen. Lernen Sie, das Ganze zu sehen. Das Gehirn des Menschen zu erforschen, aber Haut und Knochen drum herum unberücksichtigt zu lassen, das wäre das Gleiche, als reisten Sie in die Hauptstadt eines Staates und würden behaupten, das Land in toto zu kennen.«
Yeremi lächelte. »Touché, Professor. Dieser Mann da« – sie deutete auf Al Leary – »hat Sie ja in den höchsten Tönen gelobt. Wie steht es denn nun wirklich um das Wissen über den menschlichen Geist. Angenommen, unser Gehirn wäre tatsächlich eine Landkarte, wie viele weiße Flecken gibt es noch darauf?«
Chidambarampillais dunkle Augen funkelten vergnügt. »Sehr viele! Wir machen zwar wöchentlich neue Entdeckungen, aber trotzdem ist es so, als hätten wir Amerika zwar im Fernrohr erblickt, es aber noch längst nicht betreten.«
»Und trotzdem wollen Sie dem Geheimnis der empathischen Telepathie auf die Schliche kommen?«
»Ha!« Der Professor lachte. »Hat Doktor Leary das behauptet? Ich würde mich froh schätzen, wenn wir uns anschleichen könnten, um es ein wenig zu beobachten.«
»Und wie stellen Sie das an?«
»Oh, wir haben hier verschiedene Möglichkeiten: Positronen-Emissions-Tomografie, funktionelle Magnetresonanz-Tomografie und SPECT.«
»Aha.«
»Das steht für Single Photon Emission Computed Tomography.«
» Klingt beeindruckend.«
»Ist es auch! Im Grunde handelt es sich bei allen diesen Techniken um bildgebende Verfahren, die uns einen Blick in die Geisteslandschaften des Menschen erlauben, ohne seinen Schädel zu knacken.«
»Wie beruhigend! Sind diese Tomografie-Methoden mit den röntgenologischen Schichtaufnahmen zu vergleichen?«
»Grob gesagt ja, aber die Belastung für den Organismus ist um vieles geringer, die bildgebenden Auswertungsmöglichkeiten dagegen um Dimensionen größer. Wir können den verstärkten Blutfluss in bestimmten Hirnregionen messen, was uns Rückschlüsse auf erhöhte oder reduzierte Neuronenaktivitäten erlaubt. Dadurch lässt sich das Gehirn, um bei unserem kleinen Beispiel zu bleiben, kartografieren. Wir erfahren, wo sich etwas tut, wenn sich etwas tut.«
»Sofern ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie feststellen, welche Regionen von Saraf Argyrs Nervenzellen durch den Silbernen Sinn aktiviert werden.«
In Professor Chidambarampillais Gesicht ging die Sonne auf. Seine Augenbrauen waren bis dicht unter den Haaransatz hochgezogen. »Ach!«, seufzte er, als habe er gerade einen delikaten Wein verkostet, »ach, wie das klingt! Der Silberne Sinn! Wenn es ihn denn wirklich gibt, dann würde ich ihm gerne auf die Schliche kommen.«
Der Professor machte auf Yeremi einen rundum aufrichtigen Eindruck. Nachdem sie sich die Verfahrensweise der verschiedenen Untersuchungen genau hatte erklären lassen, willigten sie und ihr Schützling ein. Obwohl Saraf nicht viel von den gelehrten Schwärmereien des bronzehäutigen Mannes verstand, konnte er Chidambarampillais Gefühle hören, und die beruhigten ihn.
Die verschiedenen Tests dauerten Stunden. Immer wieder verlangten die Wissenschaftler von Saraf, seinen Fühlsinn anzustrengen. Auch Yeremi durchlief sämtliche Versuche und sollte sich ebenfalls in die Rolle einer Gefühlsspielerin versetzen. Zuletzt lag Saraf in einem abgedunkelten Raum und musste kurze Filmausschnitte ansehen, die mehrere Hinrichtungen, das rituelle Schlachten eines Schafes, die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und andere Szenen zeigten, von denen man glaubte, sie würden einen normalen Menschen nicht kalt lassen. Gleichzeitig sollte Yeremi hinter einer Trennwand, die ihr den Blick auf das Bildmaterial verwehrte, versuchen, die Gefühle ihres Partners durch empathische Telepathie zu erkennen. Während des Experiments erhielten die beiden Probanden eine schwach radioaktive Substanz injiziert. Die strahlenden Moleküle erreichten sie vom Überwachungsraum her durch einen langen Infusionsschlauch. Nach Ende von Phase eins, der Anregung der Hirnaktivität, folgte Phase zwei: die Auswertung.
Hierzu wurden die Probanden in ein Zimmer geführt, das eine bizarre Kamera für die SPECT beherbergte. Bald führten drei Kristallköpfe einen
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