Der silberne Sinn
roboterhaften Tanz um Yeremis Kopf auf und registrierten dabei die Verteilung der Radioaktivität in ihrem Gehirn. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis der »Schnappschuss« fertig war. Chidambarampillai sah sehr nachdenklich aus, als er die vom Computer in bunte Bilder umgerechneten Daten im Beisein seiner beiden Testpersonen einer ersten Begutachtung unterzog.
»Was sehen Sie?«, fragte Yeremi gespannt.
Chidambarampillai rieb sich das Kinn. »Nichts.«
Sie musste schmunzeln. »Ist das Ihr Ernst?«
»Nein.«
Jetzt war Yeremi irritiert. »Könnten Sie das etwas deutlicher erklären?«
»Gerne. Das, was Sie hier sehen, ist die komplexeste Struktur des ganzen Universums.« Chidambarampillai hielt einen billigen Plastikkugelschreiber in der Hand und fuhr damit den weißen Umriss eines menschlichen Gehirns ab, das auf schwarzem Untergrund dargestellt wurde. Innerhalb dieser Linien konnte Yeremi mehrere »Wolken« sehen, die in unterschiedlich hellen Violetttönen leuchteten. Ein Areal hinter dem optischen Zentrum des Gehirns hob sich farblich besonders ab. Es war am Rande grün, ging dann in Gelb und schließlich in einen kleinen roten Punkt über. Genau auf diesen Bereich deutete nun des Professors Stift, während er fortfuhr: »Und das da ist der rechte somatosensorische Cortex. In seine Zuständigkeit fällt die Körperwahrnehmung. Hier findet, wie wir bisher angenommen haben, Empathie statt. Wenn wir uns in die Emotionen eines anderen Menschen hineinversetzen, ahmen diese Gehirnregionen die Empfindungen unseres Gegenübers nach.«
»Der Bereich sticht deutlich hervor.«
»Was auf eine leicht erhöhte Aktivität der Nervenzellen hinweist – da haben Sie Recht. Wäre unsere Testperson A« – er deutete mit dem Stift auf die Beschriftung am unteren Bildschirmrand – »ein normaler Mensch, den wir zufällig auf der Straße getroffen und um Mitwirkung bei unserem kleinen Experiment gebeten hätten, dann würde ich sagen: Der oder die Gute rangiert weit unter dem Durchschnitt. Nach allem, was man mir über die empathische Gabe unseres Probanden gesagt hat, liegt jedoch ein Lichtjahr zwischen den erwarteten und den tatsächlichen Messwerten. In der Region müsste ein tiefrot leuchtendes Neuronenfeuerwerk zu sehen sein. Stattdessen…« Wieder massierte der Professor sein Kinn, ließ sich dabei viel Zeit, murmelte noch: »Es sei denn…« Und verstummte erneut.
Yeremi machten die sporadischen Verbalisierungen des Professors ganz kribbelig. »Es sei denn was?«, hakte sie ungeduldig nach.
Ein knubbeliger Zeigefinger bohrte sich in die Höhe. »Das ist es!«, sagte Chidambarampillai und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
Yeremi stöhnte und fragte sich, ob sie mit ihren Studenten genauso umging.
»Was, glauben Sie, würde passieren, wenn Sie mich drei Runden um den Sportplatz jagen?«, fragte der Professor.
»Sie würden drei Pfund abnehmen?«
»Das auch. Aber ich käme hechelnd und völlig erschöpft an. Am nächsten Tag hätte ich einen tödlichen Muskelkater.«
»Ich brauche ungefähr acht Wochen Pause und die zehnfache Distanz für denselben Effekt.«
»Sehen Sie!« Der Professor strahlte über das ganze Gesicht. »Genau das meine ich. Wie erginge es einem empathischen Langstreckenläufer, wenn man ihn unterfordert? Vermutlich ähnlich. Seine Neuronen müssen sich nicht besonders anstrengen, um etwas zu vollbringen, zu dem der normale Mensch kaum in der Lage ist.« Chidambarampillai nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. Sein Blick wanderte wieder auf den Bildschirm. »Genau das ist es, was sich hier zeigt.«
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus schauderte Yeremi bei dem Gedanken, die empathische Telepathie als »Feuerwerk« von Nervenzellen auf einem Computermonitor betrachten zu können. Sie deutete auf das bunte Bild und sagte mit ehrfürchtiger Stimme: »Kann man aus der Intensität der Farben ablesen, wie… stark Saraf Argyrs Gabe ist?«
»Genaueres können wir erst nach einer Reihe praktischer Tests sagen. Aber ich tippe – vorausgesetzt, meine ›Theorie der durchtrainierten Neuronen‹ stimmt – auf eine außergewöhnliche Begabung. Übrigens muss ich Sie korrigieren, Professor Bellman.« Chidambarampillai hämmerte mit dem Druckknopf seines Kugelschreibers gegen das Gehirn auf der Mattscheibe. »Das hier, die Testperson A, ist nicht der Silberne Mann. Das sind Sie.«
Yeremi taumelte wie eine Schlafwandlerin auf den Rücksitz der Großraumlimousine. Mechanisch schnallte sie
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